Es ist möglich, durch das Lesen von Goethes Farbenlehre und dem Anschauen von graphischen Darstellungen sich den Begriff des Urphänomens klarzumachen. Zum rechten Verstehen und zur Vermeidung von unwillkommenen Fehlern kommt man erst dann, wenn man die von Goethe beschriebenen Versuche selbst durchführt. Nicht umsonst sagte Goethe zu Eckermann:
«Meine Farbenlehre … will, wie Sie wissen, nicht bloß gelesen und studiert, sondern sie will getan sein … und das hat seine Schwierigkeiten.»
Gewiss hat das «Tun» in der Farbenlehre seine Schwierigkeiten. Hat man aber erst einmal die Notwendigkeit eines «Tun`s» oder sein Interesse für ein bestimmtes Thema entdeckt, so wird man keine Mühen scheuen, das einmal Entdeckte, in diesem Fall «das Urphänomen der Farben», weiter zu verfolgen. Man wird dann auch all die vielfältigen Farbphänomene unserer Welt betrachten und sie auf dieses «Urphänomen» zurückführen. Erst so ist es möglich, den wahren Charakter der Farbphänomene und des Urphänomens zu verstehen oder sogar erleben zu können.
Gehen wir an einem schönen, wolkenlosen, sonnigen Tag, gegen Spätnachmitttag, in der Landschaft spazieren, was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? Ein Himmelsblau. Aber vielleicht entsteht ja in uns die Frage, warum der Himmel denn «Blau» ist und nicht «Rot-Orange» wie am Abend?
Schauen wir nach, was Goethe darüber im didaktischen Teil seiner Farbenlehre, in der » Zweiten Abteilung – Physische Farben» §136 schreibt:
„Physische Farben nennen wir diejenigen, zu deren Hervorbringung gewisse materielle Mittel nötig sind, welche aber selbst keine Farbe haben und teils durchsichtig, teils trüb und durchscheinend, teils völlig undurchsichtig sein können. Dergleichen Farben werden also in unserm Auge durch solche äussere bestimmte Anlässe erzeugt oder, wenn sie schon auf irgendeine Weise ausser uns erzeugt sind, in unser Auge zurückgeworfen. Ob wir nun schon hierdurch denselben eine Art Objektivität zuschreiben, so bleibt doch das Vorübergehende, Nichtfestzuhaltende meistens ihr Kennzeichen.“
Erst in einem Unterkapitel dieser zweiten Abteilung, den «Dioptrischen Farben der ersten Klasse», finden sich die atmosphärischen Farben beschrieben.
(Goethe nennt solche Farben dioptrisch, welche dann erscheinen, wenn Licht und Finsternis durch farblose, durchscheinende Mittel hindurch wirken. Dabei unter-scheidet Goethe zwei Klassen von durchscheinenden Mitteln: Jene der sog. ersten Klasse, das sind farblose, durchscheinende, trübe Materialien, also z.B. Rauch oder Atmosphäre, und die der zweiten Klasse, das sind solche Mittel, die im höchstmöglichen Grade durchsichtig erscheinen, z.B. Glaskörper, wie Linsen und Prismen,… . Vgl. §143,144)
In den Paragraphen 145-156 gibt Goethe das Urphänomen der Farbenlehre an. Damit Farbe erscheinen kann, bedarf es des Zusammenwirkens der Dreiheit von Hell, Dunkel und Trübe unter bestimmten Bedingungen oder Verhältnissen. Auf diese, soll im weiteren eingegangen werden.
An Hand der obigen Zeichnung, die schematisch die Erdkugel zeigt, soll das Urphänomen erläutert werden: Die von der Sonne beleuchtete Atmosphäre, welche in diesem Fall die Rolle der aufgehellten Trübe vor dem dunklen Weltall einnimmt, lässt die verschiedenen Blautöne, je nach Dichte der «Trübe», sichtbar werden und zwar vom hellsten Blau bis zum dunkelsten Violett, je nach «Menge» der trüben Atmosphäre, welche sich je nach unserem Standort zum dunklen Weltall verringert. Man muss nur einen Berg besteigen oder, bequemer, mit dem Flugzeug höher kommen, so verändert sich das helle Blau über Blau zum Violett. Dies entspricht: viel helle «Trübe» vor Dunkelheit, bis zu wenig helle «Trübe» vor der Dunkelheit. Dieses Violett endet, wie ein Astronautenfoto deutlich zeigen kann, am oberen Rand der Atmosphäre, wobei sich dann sofort die tiefe Dunkelheit, das Schwarz des Weltalls, zeigt.
Betrachtet man dagegen die untergehende Sonne, in diesem Fall repräsentiert die Atmosphäre das Dunkle vor dem Hellen, erscheint bei wenig «Trübe» zuerst das helle Gelb. Neigt sich die Sonne langsam dem Horizont zu, so findet ein fliessender Übergang von Hellgelb über Orange zu Rot statt. Mit dem Untergehen der Sonne nimmt zugleich die Menge atmosphärischer Dünste zwischen mir und der Sonne zu. Das Röterwerden des Sonnenballs geht also Hand in Hand mit der dichterwerdenden Trübe.
So kann man anhand der atmosphärischen Gegebenheiten, einer aufgehellten «Trübe» vor der Dunkelheit und einer dunklen «Trübe» vor der Helligkeit, in der Natur das «Urphänomen» der Farbentstehung erleben.
In sehr eindrucksvoller Weise wurde dieses Phänomen der Entstehung des «Urphänomens», des Farbenpaars Gelb-Rot und Blau-Violett, beziehungsweise deren nicht-Entstehen-können auf dem Mond anhand von einigen Astronauten-Diapositive gezeigt. Auf dem Mond fehlt die Atmosphäre. Das Urphänomen kann damit auch nicht erscheinen, weil eben der vermittelnde Faktor zwischen dem dunklen Weltall und der hellen Sonne, fehlt.
Weiter beschreibt Goethe dieses «werdende» Farbenspiel durch verschiedene Experimente, von welchen einige Beispiele angeführt sein sollen:
Legt man ein Opalglas über ein weisses Papier, so ist ein Gelb-Orange sichtbar, wohingegen eine Blau-Violette Farbe erscheint, wenn es über ein schwarzes Papier zum Liegen kommt.(Vgl. §166,167)
Auch ein von einem Feuer erzeugter Rauch demonstriert dieses Phänomen sehr schön. Man kann das Phänomen » Hell vor Dunkel – Dunkel vor Hell» gut am Rauch vor einer dunklen, im Schatten liegenden Hecke beobachten, wobei der Rauch das Helle repräsentiert. Die Farben Hellblau – Violett zeigen sich. Derselbe Rauch vor der Sonne betrachtet, jetzt als das «Dunkle» Medium vor dem «Hellen», zeigt wunderbar die Farben Gelb-Rot.(Vgl.§160)
Auch das «Phänomen des Kerzenlichtes», das Goethe in §159 anführt, lässt sich hier einreihen. Die blaue Färbung der Kerzenflamme im unteren Teil lässt sich mit der «Formel“ Hell vor Dunkel – Dunkel vor Hell verstehen: das nach oben zur Flamme aufsteigende, in gasförmigen Zustand versetzte Kerzenwachs, ist als aufgehellte Trübe anzusehen. Sobald man den schwarzen Karton hinter der Kerzenflamme wegnimmt, verschwindet auch der Blau-Violette Farbton.
Mit diesen wenigen Beispielen sollten nur einige Versuche Goethes anschaulich gemacht werden, weil sie in einfachster Weise das Urphänomen beleuchten. Das Ende des Vortrages bildeten einige wenige Diabeispiele, die ausblickend den nahtlosen Übergang von den dioptrischen Farben der ersten Klasse zu den «Dioptrischen Farben der zweiten Klasse», den prismatischen Farben, zeigen sollten.
Das charakteristische Kennzeichen für das Erscheinen der sogenannten “Physischen Farben“ ist die Vermittlung von Hell und Dunkel durch eine Trübe. Deshalb wäre es für ein tieferes Verständnis des Urphänomens wichtig, nicht zuletzt wegen dem Rätsel-Phänomen “blaue Sonne“, genauer zu untersuchen, was eben als Vermittelndes auftritt, nämlich die Trübe.