Brief Hegels an Goethe 1821

Neuste aufmunternde Teilnahme

Brief Hegels an Goethe 20.2.1821

Unter dem so reichen Inhalte des Heftes (4. Heft des ersten Bandes „zur Naturwissenschaft“) habe ich aber vor allem für das Verständnis zu danken, welches Sie uns über die entoptischen Farben haben aufschließen wollen; der Gang und die Abrundung dieser Traktation wie der Inhalt haben meine höchste Befriedigung und Anerkennung erwecken müssen. Denn bisher hatten wir, der so vielfachen Apparate, Machinationen und Versuche über diesen Gegenstand unerachtet, oder vielmehr wohl gar um derselben willen selbst, von den ersten Malus’schen und den fernern hieraus hervorgegangenen Erscheinungen nichts verstanden; bei mir wenigstens aber geht das Verstehen über alles, und das Interesse des trocknen Phänomens ist für mich weiter nichts als eine erweckte Begierde, es zu verstehen.
Nun aber wend› ich mich zu solchen, die, was sie haben und wissen, ganz allein von lhnen profitiert haben und nun tun, als ob sie aus eignen Schachten es geholt, dann aber, wenn sie etwa auf ein weiteres Detail stoßen, hier sogleich, wie wenig sie das Empfangne auch nur sich zu eigen gemacht, dadurch beweisen, dass sie solches etwaige Weitere nicht zum Verständnis aus jenen Grundlagen zu bringen vermögen und es Ihnen lediglich anheimstellen müssen, den Klumpen zur Gestalt herauszulecken, ihm erst einen geistigen Atem in die Nase zu blasen. Dieser geistige Atem – und von ihm ist es, dass ich eigentlich sprechen wollte, und der eigentlich allein des Besprechens wert ist – ist es, der mich in der Darstellung Ew. Exc. von den Phänomenen der entoptischen Farben höchlich hat erfreuen müssen. Das Einfache und Abstrakte, was Sie sehr treffend das Urphänomen nennen, stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die konkretern Erscheinungen auf, als entstehend durch das Hinzukommen weiterer Einwirkungsweisen und Umstände, und regieren den ganzen Verlauf so, dass die Reihenfolge von den einfachen Bedingungen zu den zusammengesetztern fortschreitet und, so rangiert, das Verwickelte nun durch diese Dekomposition in seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen auszuspüren, es von den andern, ihm selbst zufälligen Umgebungen zu befreien, – es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache des großen geistigen Natursinns so wie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche der Erkenntnis in diesem Felde.
Bei dem Urphänomen fällt mir die Erzählung ein, die Ew. Exc. der Farbenlehre hinzufügen, – von der Begegnis nämlich, wie Sie mit Büttners schon die Treppe hinabeilenden Prismen noch die weiße Wand angesehen und nichts gesehen haben als die weiße Wand; diese Erzählung hat mir den Eingang in die Farbenlehre sehr erleichtert, und so oft ich mit der ganzen Materie zu tun bekomme, sehe ich das Urphänomen vor mir, Ew. Exc. mit Büttners Prismen die weiße Wand betrachten und nichts sehen als Weiß.*
Darf ich Ew. Exc. aber nun auch noch von dem besondern Interesse sprechen, welches ein so herausgehobenes Urphänomen für uns Philosophen hat, dass wir nämlich ein solches Präparat – mit Ew. Exc. Erlaubnis – geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden können! – Haben wir nämlich endlich unser zunächst austernhaftes, graues oder ganz schwarzes – wie Sie wollen – Absolutes doch gegen Luft und Licht hingearbeitet, dass es desselben begehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es vollends an das Licht des Tages herauszuführen; unsere Schemen würden zu Dunst verschweben, wenn wir sie so geradezu in die bunte, verworrene Gesellschaft der widerhältigen Welt versetzen wollten. Hier kommen uns nun Ew. Exc. Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem Zwielichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtlich oder greiflich durch seine Sinnlichkeit – begrüßen sich die beiden Welten, unser Abstruses und das erscheinende Dasein, einander.
Wenn ich nun wohl auch finde, dass Ew. Exc. das Gebiet eines Unerforschlichen und Unbegreiflichen ungefähr ebendahin verlegen, wo wir hausen – ebendahin, von wo heraus wir Ihre Ansichten und Urphänomene rechtfertigen, begreifen – ja, wie man es heißt, beweisen, deduzieren, konstruieren usf. wollen, so weiß ich zugleich, dass Ew. Exc., wenn Sie uns eben keinen Dank dafür wissen können, uns doch toleranterweise mit dem Ihrigen so nach unserer unschuldigen Art gewähren lassen; – es ist doch immer noch nicht das Schlimmste, was Ihnen widerfahren ist, und ich kann mich darauf verlassen, dass Ew. Exc. die Art der Menschennatur, dass, wo einer etwas Tüchtiges gemacht, die andern herbeirennen und dabei auch etwas von dem Ihrigen wollen getan haben, zu gut kennen.
Ich muss noch auf eine der Belehrungen Ew. Exc. zurückkommen, indem ich mich nicht enthalten kann, Ihnen noch meine herzliche Freude und Anerkennung über die Ansicht, die Sie über die Natur der doppelt refrangierenden Körper gegeben haben, auszusprechen. Dieses Gegenbild von derselben Sache, einmal als durch äußerliche mechanische Mittel dargestellt – das andere Mal eine innere Damastweberei der Natur -, ist meiner Meinung nach gewiss einer der schönsten Griffe, die getan werden konnten.

Berlin, den 20. Febr. 1821
Hegel