III. Übersicht und weitere Ausführung

53.
Das Prisma zeigt den Augen desjenigen, der durch dasselbe sieht, alle farbigen oder unfarbigen Flächen in demselben Zustande, wie er sie mit dem bloßen Auge sieht, ohne weitere Veränderung, als dass sie wegen Stärke und Düsternheit des Glases ein wenig dunkler erscheinen, welches aber auch schon der Fall bei gläsernen Tafeln ist.

54.
Das Prisma zeigt nur Farben da, wo Licht und Schatten horizontal wechseln; deswegen zeigt es gewöhnlich an allen horizontalen Rändern Farben, weil kaum ein Rand zu denken ist, wo nicht auch Abweichung der Farbe oder des Lichts und des Schattens von einem Gegenstande zum andern existiert.
(Ich merke hier zu mehrerer Deutlichkeit an, was erst in der Folge weiter ausgeführt werden kann, dass an den Rändern, wo farbige Gegenstände aneinanderstoßen, das Prisma gleichfalls die Farben nach dem bisherigen Gesetze zeigt, nämlich nur insofern, als eine Farbe, die über der andern steht, dunkler oder heller ist.)

55.
Das Prisma zeigt die Farben nicht aufeinanderfolgend, sondern einander entgegengesetzt. Da auf diesem Grundsatze alles beruht, so ist es notwendig, die Versuche, die wir schon gesehen haben, in dieser Rücksicht nochmals zu wiederholen.

56.
Wenn wir den Versuch, welcher den horizontalen weißen Streifen ganz gefärbt und die fünf Farben in einer Folge zeigt, einen Augenblick bewundern, so hilft uns doch bald die alte Theorie, und wir können uns diesen horizontalen Papierstreifen als eine Öffnung eines Fensterladens, als die Wirkung eines hereinfallenden, in die fünf oder sieben Farben gebrochenen Lichtstreifens vorstellen. Wenn wir aber den schwarzen Streifen auf weißem Papier vor uns nehmen, so verwundern wir uns um desto mehr, da wir auch diesen schwarzen Streifen völlig aufgehoben und die Finsternis sowohl als das Licht in Farben verwandelt sehen. Ich habe fast einen jeden, der diese letzte Erfahrung zum ersten Male machte, über diese beiden Versuche erstaunt gesehen; ich habe die vergeblichen Bemühungen gesehen, das Phänomen aus der bisherigen Theorie zu erklären.

57.
Wir dürfen aber nur eben diese schwarzen und weißen Streifen vertikal halten und die Versuche des § 51 und 52 wiederholen, so wird sich uns gleich das Rätsel aufschließen. Wir sehen nämlich alsdann die obern und untern Ränder völlig voneinander getrennt, wir sehen den schwarzen und weißen Stab in der Mitte und bemerken, dass bei jenen ersten Versuchen der horizontale schwarze und weiße Stab nur deswegen ganz gefärbt war, weil er zu schmal ist und die farbigen Ausstrahlungen beider Ränder einander in der Mitte des Stabes erreichen können.

58.
Da diese Strahlungen, wie hier nur im Vorbeigehn bemerkt werden kann, in der Nähe des Prismas geringer sind als in der Entfernung, so bringe man nur den horizontalen weißen Streif nahe ans Prisma, und man wird die getrennten farbigen Ränder so gut als in dem vertikalen Zustande und das reine Weiß und Schwarz in der Mitte des Streifens erblicken; man entferne ihn darauf, und man wird bald in dem Weißen das Gelbe, in dem Schwarzen das Violette herunterstrahlen und sowohl Weiß als Schwarz völlig aufgehoben sehen. Man entferne beide Karten noch weiter, und man wird in der Mitte des weißen Streifens ein schönes Papageigrün erblicken, weil Gelb und Blau sich strahlend vermischen. Ebenso werden wir in der Mitte des schwarzen Streifens in gedachter Entfernung ein schönes Pfirsichblüt sehen, weil die Strahlungen des Violetten und Roten sich miteinander vereinigen. Ich füge zu noch größerer Deutlichkeit ein Schema hier bei, wie an gedachten Stellen die Farben stehen müssen.

59.
Gesetz der farbigen Ränder, wie solche durchs Prisma erscheinen, wenn, wie bei allen bisherigen Versuchen vorausgesetzt wird, der brechende Winkel unterwärts gekehrt ist.

Schema 1:

Weiß auf Schwarz

Schema 2:

Schwarz auf Weiß

Rot Blau
Gelb Violett
*** * * *
Blau Rot
Violett Gelb

Ist der Körper, an dem die Ränder erscheinen, breit genug, so kann der mit *** bezeichnete Raum eine proportionierliche Breite haben; ist der Körper schmal oder es vermehrt sich die Strahlung durch Entfernung, so entsteht an dem Orte, der mit bezeichnet ist, in dem ersten Falle Grün, in dem andern Pfirsichblüt, und das Schema sieht alsdenn so aus:

Schema 3:

Weiß auf Schwarz

Schema 4:

Schwarz auf Weiß

Rot Blau
Gelb Violett
Grün Pfirsichblüt
Blau Rot
Violett Gelb

Nur ist in beiden Fällen zu bemerken, dass die Mischungen Grün und Pfirsichblüt bei starken Strahlungen dergestalt prädominieren, dass sie die Farben, woraus sie zusammengesetzt sind, gänzlich aufheben; doch wird dieses erst in dem eigenen Kapitel von der Strahlung genauer ausgeführt werden.
59. Goethe sieht in dem kontinuierlichen Spektrum eine weniger ursprüngliche Erscheinung als in dem in der Mitte weißen beziehungsweise schwarzen. Denn dieses ist das ursprünglichere, während jenes nur durch Zusammenrücken der Grenzen entstanden ist. Das einfachste Phänomen ist überhaupt nur da vorhanden, wo eine einzige Grenze in Betracht kommt. Denn da sind die Bedingungen am einfachsten. Es ist ja die Hauptfrage nach der Entstehung der prismatischen Farben. Die Grundbedingung hierzu ist nur, daß die beiden Gegensätze, Schwarz und Weiß, an ihrer Grenze durch das Prisma betrachtet werden. Zwei Grenzen sind schon eine Vermannigfaltigung des Versuches. Und die Nähe der Grenzen ist eine zufällige Bestimmung, die mit den Hauptbedingungen nichts zu tun hat. Wenn man sie unter die Grundbedingungen aufnähme, wäre es gerade so, als wenn man bei dem Beweise, daß die Winkelsumme eines Dreieckes i 80° ist, nur ein gleichseitiges Dreieck zu Grunde legen wollte. (R. Steiner)

60.
Da die bisher allgemein verbreiteten Prismen alle gleichseitig sind und sehr starke Strahlungen hervorbringen, so habe ich mich in meinem Vortrage danach gerichtet, damit die Versuche sogleich desto allgemeiner angestellt werden können; allein die ganze Demonstration zieht sich ins Kürzere zusammen und erhält sogleich den höchsten Grad von Evidenz, wenn man sehr spitze Prismen von 10 bis 15 Graden gebraucht. Es zeigen sich alsdann die Farben viel reiner an den Rändern selbst einer schmalen horizontalen Linie.

61.
So kann man z. B. die beiden Karten Nr. 20 und 21 durch ein spitzwinkliges Prisma ansehen, und man wird den feinen blauvioletten und gelbroten Streif an allen entgegengesetzten Rändern erblicken. Nimmt man dagegen ein gleichseitiges Prisma, so geben beide Karten, die sich nur durch die verschiedenen Breiten der weißen und schwarzen Streifen unterscheiden, zwei ganz verschiedene Farbenspiele, welche sich aus den Scheinen 3 und 4 und der ihnen beigefügten Bemerkung leicht erklären lassen. Die Karte Nr. 20 erklärt sich nach dem Schema Nr. 31 Weiß auf Schwarz, und es zeigt solche in einer Entfernung von ungefähr 2 Fuß Hochrot, Papageigrün, Violett, und es lässt sich ein Punkt finden, wo man ebensowenig Blau als Gelb bemerkt. Dagegen ist die Karte Nr. 21 als Schwarz auf Weiß anzusehen; sie zeigt in gedachter Entfernung Blau, Pfirsichblüt und Gelb, und es lässt sich gleichfalls eine Entfernung finden, wo man kein Hochrot und kein Violett erblickt.

62.
Die Karte 19 zeigt uns, wenn wir sie nahe genug an das Prisma halten, an dem breiten Streifen noch Blau, Violett, Hochrot und Gelb, wenn an dem schmälern Streifen das Hochrot schon durch das Violette überwältigt und zu einem hellen Pfirsichblüt verändert ist. Diese Erfahrung zeigt sich noch deutlicher, wenn man den breiten Streif noch einmal so breit macht, welches mit ein paar Pinselstrichen geschehen kann, als warum ich die Liebhaber ersuche. Ein ähnlicher, sehr auffallender Versuch findet bei den Fensterrahmen statt, vorausgesetzt, dass man den freien Himmel hinter ihnen sieht; der starke Querstab des Kreuzes wird von oben herein blau, violett, hochrot und gelb erscheinen, wenn die kleinen Stäbe nur blau, pfirsichblüt und gelb sind.

63.
Diese Reihe von Experimenten, deren eins sich an das andere anschließt, entwickelt die Phänomene der Farben, wie sie uns durch das Prisma erscheinen, wenn die Ränder, an denen sie gesehen werden, entschieden Schwarz und Weiß sind. Grau auf Schwarz, Weiß und Grau lässt uns zarte und sonderbare Phänomene sehen, ebenso die übrigen Farben, gegen Schwarz und Weiß, gegeneinander selbst gehalten und durchs Prisma betrachtet. In dem nächsten Stücke dieser Beiträge werden auch diese Wirkungen umständlich ausgeführt werden, und es sollte mir angenehm sein, wenn die Sagazität des größten Teils meiner Leser mir voreilte, ja wenn die wichtigsten Punkte, die ich noch später vorzutragen habe, von einigen entdeckt würden, eh sie durch mich bekannt werden; denn es liegt in dem wenigen, was schon gesagt ist, in diesen geringen, einem Spielwerk ähnlich sehenden Tafeln der Grund mancher schönen Folge und der Erklärung manches wichtigen Phänomens. Gegenwärtig kann ich nur noch einen Schritt weiter tun.

64.
Unsere bisherigen Versuche beschäftigten sich nur mit gradlinigen Rändern, und es war notwendig, um das Prinzipium, wonach sie gefärbt erscheinen, auf das einfachste und fasslichste darzustellen. Wir können nunmehr, ohne Furcht, uns zu verwirren, uns auch an gebogene Linien, an zirkelrunde Gegenstände wagen.

65.
Man nehme die Karte Nr. 19 nochmals zur Hand und halte sie in der Diagonale vor das Prisma, dergestalt, dass die Kreuze als Andreaskreuze erscheinen; man wird die Farben in der Folge des vierten Schemas erblicken, und alle Linien werden gefärbt erscheinen. Es zeigen sich also hier abermals alle Ränder farbig, sobald sie nur im mindesten vom Perpendikel abweichen. Nimmt man die Karte Nr. 23 nahe vor das Prisma, so findet man die Ränder des schwarzen und weißen Zirkels von oben herunter und von unten hinauf halbmondförmig nach denen Scheinen i und 2 gefärbt, und das Schwarze und Weiße zeigt sich noch in der Mitte, wie die Karte Nr. 17 es angibt. Der schwarze und weiße Kreis sind beide ringsum gefärbt aus eben der Ursache, aus welcher ein Andreaskreuz oder ein weißes oder schwarzes Viereck, dessen Diagonale perpendikular vors Prisma gehalten würde, ganz gefärbt erscheinen muss, weil sie nämlich aus Linien bestehen, die alle vom Perpendikel abweichen. Man wird dieses Gesetz hier um so deutlicher erblicken, als die farbigen Ränder der Zirkel zu beiden Seiten schmal sind, hingegen der obere und untere sehr verbreitert erscheinen; denn natürlicherweise können die Seitenränder als Perpendikularlinien angesehen werden, die sich gradweise dem Horizont zuneigen und insofern immer mit vermehrter Strahlung erscheinen. Man versäume nicht, auch diese Karte vor allen Dingen mit dem spitzwinkligen Prisma zu betrachten.

66.
Man entferne sich sodann von der Karte Nr. 23 ungefähr um 2 Fuß und betrachte sie durch das gleichseitige Prisma; man wird, wie ehemals die schmalen Streifen, nunmehr auch diese runden schwarzen und weißen Bilder völlig gefärbt sehen, und zwar, wie solches die Karte Nr. 18 zeigt, nach dem Schema Nr. 3 und 4. Es fällt nunmehr deutlich in die Augen, dass der schwarze so gut als der weiße Gegenstand durch die farbigen Ausstrahlungen der Ränder uns völlig gefärbt erscheint und dass wir die Ursache dieses Phänomens nirgends anders zu suchen haben.

67.
Es muss uns bei der weißen, nach dem Schema Nr. 3 durchs Prisma veränderten und zugleich sehr in die Länge gezogenen runden Figur das Spektrum Solis des Newton einfallen, und wir glauben einen Augenblick die Wirkung eines durch ein Loch im Fensterladen gespaltenen Lichtstrahls zu erblicken; wenn wir aber gleich daneben einen Strahl der Finsternis annehmen und denselben so gut als das Licht in fünf oder sieben Farben spalten müssen, so sehen wir leicht, dass wir auf dem Wege sind, in große Verwirrungen zu geraten.

68.
Ich habe noch einen weiten Weg zu machen, eh ich an das Experiment gelange, wo ein durch einen Fensterladen in eine dunkle Kammer geworfener Lichtstrahl ein Phänomen zeigt, dem ähnlich, das wir auf unserer Karte erblicken. So viel aber leidet die Reihe der Demonstration hier anzuführen.

69.
Man bringe eine zirkelrunde weiße Fläche, von welcher Größe man will, auf eine schwarze Tafel: man wird in einer ihrer Größe proportionierten Entfernung erst die Ränder farbig und dann den Kreis ganz gefärbt sehen. Wären Tafel und Kreis sehr groß, so sähe man dieselben erst in einer großen Ferne ganz gefärbt, teils weil sich die Strahlung durch Entfernung vermehrt, teils weil der Gegenstand im Auge kleiner erscheint. Genauere Bestimmung von allen diesen und, ich kann hoffen, sogar bis auf einen gewissen Grad Maß und Berechnung wird das Kapitel liefern, das eigens von der Strahlung handeln soll.

70.
Man sehe nun also an dem reinen Himmel nach Sternen, nach dem Monde, ja nach der Sonne, wenn man vorher ihre mächtigen Strahlen durch eine angerauhte Scheibe gemäßigt hat, man sehe jedes Loch in einem Fensterladen, in einem Schirm, der gegen das Licht gestellt ist, durch das Prisma an: man wird alle diese Gegenstände nach dem Schema Nr. 3 gefärbt erblicken, und wir werden aus dem Vorigen die Ursache leicht angeben können, warum leuchtende Körper oder helle Öffnungen, die entweder durch Entfernung sehr verkleinert werden oder an sich klein sind, ganz und gar gefärbt erscheinen und die Strahlungen an ihren Rändern sich ineinander verlieren müssen, da weiße Flächen, die nur schwache Repräsentanten sind, schon jene Wirkung hervorbringen.

71.
Da ich nunmehr alles gesagt habe, was für den Anfang zu sagen war, so würde ich mich nur selbst wiederholen müssen, wenn ich das Vorgetragene weiter auslegen wollte. Ich überlasse daher dem Nachdenken meiner Leser, das hinzuzutun, was der Methode meines Vortrags wider meinen Willen an Klarheit abgehen mag; denn ich habe bemerken können, wie schwer es schon mündlich und mit allen Gerätschaften versehen sei, den Vortrag dieser in mehr als einem Sinne befremdenden Versuche durchzuführen. Soviel bin ich überzeugt, dass es jedem denkenden Menschen Freude machen wird, sich mit diesen Anfängen bekanntzumachen, besonders wenn er die Folgerungen, die sich daraus ziehen lassen, entweder ahnet oder entdeckt.