II. Besondere Prismatische Versuche

38.
Ein durchsichtiger Körper kann im allgemeinen Sinne prismatisch heißen, wenn zwei Flächen desselben in einem Winkel zusammenlaufen. Wir haben auch bei einem jeden Prisma nur auf diesen Winkel, welcher gewöhnlich der brechende Winkel genannt wird, zu sehen, und es kommen bei den Versuchen, welche gegenwärtig angestellt werden, nur zwei Flächen in Betracht, welche durch denselben verbunden werden. Bei einem gleichwinkligen Prisma, dessen drei Flächen gleich sind, denken wir uns die eine Fläche weg oder bedecken sie mit einem schwarzen Papiere, um uns zu überzeugen, dass sie vorerst weiter keinen Einfluss hat. Wir kehren bei den folgenden Versuchen den brechenden Winkel unterwärts, und wenn wir auf diese Weise die Erscheinungen genau bemerkt haben, so können wir nachher denselben hinaufwärts und auf beide Seiten kehren und die Reihe von Versuchen wiederholen.

39.
Mit dem auf die angezeigte Weise gerichteten Prisma beschaut der Beobachter nochmals zuerst alle Gegenstände, die sich in seinem Gesichtskreis befinden. Er wird überall bunte Farben erblicken, welche gleichsam den Regenbogen auf mannigfaltige Weise wiederholen.

40.
Er wird besonders diese Farben an horizontalen Rändern und kleinen Gegenständen am lebhaftesten wahrnehmen, indem von ihnen gleichsam Strahlen ausfahren und sich aufwärts und niederwärts erstrecken. Horizontale Linien werden zugleich gefärbt und gebogen sein; an vertikalen lässt sich keine Farbe bemerken, und nur bei genauer Beobachtung wird man finden, dass zwei vertikale Parallellinien unterwärts sich ein wenig gegeneinander zuneigen.

41.
Man betrachte den reinen blauen Himmel durch das Prisma, man wird denselben blau sehen und nicht die mindeste Farbenspielung an demselben wahrnehmen. Ebenso betrachte man reine einfarbige oder schwarze und weiße Flächen, und man wird sie, wenn das Prisma rein ist, kaum ein wenig dunkler als mit bloßen Augen sehen, übrigens aber gleichfalls keine Farbenspielung bemerken.

42.
Sobald an dem reinen blauen Himmel sich nur das mindeste Wölkchen zeigt, so wird man auch sogleich Farben erblicken. Ein Stern am Abendhimmel wird sich sogleich als ein buntes Flämmchen und jeder bemerkliche Flecken auf irgendeiner farbigen Fläche sogleich bunte Farben durch das Prisma zeigen. Eben deswegen ist der vorstehende Versuch mit großer Vorsicht anzustellen, weil eine schwarze und weiße wie auch jede gefärbte Fläche selten so rein ist, dass nicht z. B. in dem weißen Papiere ein Knötchen oder eine Faser, an einer einförmigen Wand irgendeine Erhobenheit sich befinden sollte, wodurch eine geringe Veränderung von Licht und Schatten hervorgebracht wird, bei der sogleich Farben sichtbar werden.

43.
Um sich davon zu überzeugen, nehme man die Karte Nr. 1 vor das Prisma, und man wird sehen, wie die Farben sich an die wurmförmig gezogenen Linien anschmiegen. Man wird ein übereinstimmendes, aber ein verworrenes und zum Teil undeutliches Farbenspiel bemerken.

44.
Um sogleich einen Schritt weiter zu gehen und sich zu überzeugen, dass eine regelmäßige Abwechslung von Licht und Schatten auch regelmäßige Farben durchs Prisma hervorbringe, so betrachte man Nr. 2, worauf schwarze und weiße Vierecke regelmäßig abwechseln. Man wird mit Vergnügen ein Viereck wie das andere gefärbt sehen, und es wird noch mehr Aufmerksamkeit erregen, wenn man die Karte dergestalt vor das Prisma hält, dass die Seiten der Vierecke mit der Achse des Prismas parallel laufen. Man wird durch die bloße veränderte Richtung ein verändertes Farbenspiel auf der Karte entstehen sehen.
Man halte ferner die Karten Nr. 20 und 21 dergestalt vor das Prisma, dass die Linien parallel mit der Achse laufen; man nehme Nr. 22 horizontal, perpendikular, diagonal vor das Glas, und man wird immer veränderte Farben erblicken, wenngleich die Karten nur schwarze und weiße Flächen zeigen, ja sogar wenn nur die Richtung derselben gegen das Prisma verändert wird.

45.
Um diese wunderbaren Erscheinungen näher zu analysieren, nehmen wir die Karte Nr. 3 vor das Glas, und zwar so, dass der weiße Streifen derselben parallel mit der Achse gerichtet sei; wir bemerken alsdann, wenn das Blatt ungefähr eine Elle vom Prisma entfernt, steht, einen reinen, wenig gebogenen Regenbogenstreifen, und zwar die Farben völlig in der Ordnung, wie wir sie am Himmel gewahr werden, oben Rot, dann herunterwärts Gelb, Grün, Blau, Violett. Wir finden in gedachter Entfernung den weißen Streifen ganz auf gehoben, gebogen, farbig und verbreitert. Die Karte Nr. 5 zeigt die Farbenordnung und Gestalt dieser Erscheinung.

46.
An die Stelle jener Karte nehmen wir die folgende Nr. 4, und es wird uns in derselben Lage der schwarze Streif eine ähnliche farbige Erscheinung zeigen; nur werden die Farben an derselben gewissermaßen umgekehrt sein. Wir sehen zu unterst Gelb, dann folgt hinaufwärts Rot*, sodann Violett, sodann Blau. Der schwarze Streifen ist ebenso gut wie der weiße gebogene, verbreitert und von strahlenden Farben völlig aufgehoben. Die Karte Nr. 6 zeigt ungefähr, wie er sich dem Auge darstellt.

47.
Wir haben bei den vorigen Experimenten gesehen, dass sich die Ordnungen der Farben gewissermaßen umkehren; wir müssen diesem Gesetz weiter nachspüren. Wir nehmen deswegen die Karte Nr. 7 vor das Prisma, und zwar dergestalt, dass der schwarze Teil oben, der weiße Teil unten befindlich ist, und wir werden sogleich an dem Rande zwischen beiden einen roten und gelben Streifen erblicken, ohne dass sich an diesem Rande eine Spur von Blau, Grün oder Violett finden ließe. Die Karte Nr. 8 zeigt uns diesen farbigen Rand gemalt.

48.
Höchst merkwürdig ist es nun, wenn wir die Karte Nr. 7 umkehren, dergestalt, dass das Schwarze unten und das Weiße sich oben befindet: in diesem Augenblicke zeigt uns das Prisma an dem Rande, der uns vorhin gelb und rot erschien, einen blau und violetten Streifen, wie die Karte Nr. 9 denselben zeigt.

49.
Besonders auffallend ist es, wenn wir die Karte Nr. 7 dergestalt vor das Prisma bringen, dass der Rand zwischen Schwarz und Weiß vertikal vor uns steht. Wir werden denselben alsdann ungefärbt erblicken; wir dürfen aber nur mit der geringsten Bewegung ihn hin und wider neigen, so werden wir bald Rot, bald Blau * in dem Augenblicke sehen, wenn das Schwarze oder das Weiße bald oben, bald unten sich befindet. Diese Erfahrungen führen uns natürlich zu den folgenden Versuchen.

50.
Auf der Karte Nr. 10 sind zwei schwarze und zwei weiße Vierecke kreuzweise angebracht, so dass sich Schwarz und Weiß wechselweise übereinander befindet. Die Wirkung des Prismas bleibt auch hier wie bei den vorigen Beobachtungen sich gleich, und wir sehen nunmehr die verschiedenfarbigen Streifen nebeneinander auf einer Linie, wie sie Nr. 11 zeigt, und der Begriff von dem Gegensatze wird uns immer einleuchtender.

51.
Um diesen völlig zur Klarheit zu bringen, nehmen wir die Karte Nr. 3 wieder vor das Prisma und halten sie dergestalt, dass der darauf befindliche weiße Streifen vertikal vor uns steht. Wir werden sogleich die rote und gelbe Farbe oben, die blaue und violette unten erblicken, und der Zwischenraum des Streifens wird weiß erscheinen, so wie es die Karte Nr. 12 angibt.

52.
Betrachten wir auf eben die Weise die Karte Nr. 4, so sehen wir die Erscheinung abermals umgekehrt, indem an dem schwarzen Streifen das Blaue und Violette sich oben, das Rote und Gelbe sich unten zeigt und gleichfalls das Schwarze in der Mitte unverändert erscheint. Nr. 13 zeigt uns auch diese Farben in ihrer Ordnung und Entfernung.

52. Nun folgt, nachdem das einfachste (Ur-)Phänomen herausgesondert ist, die Vermannigfaltigung der Versuche, um allmählich die komplizierteren Erscheinungen aus den einfachen abzuleiten. (R. Steiner)