VIII. Von den Strahlungen

89.
Ich habe mich schon mehrmalen des Wortes Strahlungen bedient, und es ist nötig, dass ich mich vorläufig über dasselbe erkläre, damit es wenigstens einstweilen gelte, bis wir es vielleicht in der Folge gegen ein schicklicheres vertauschen können.
Wir haben uns in dem ersten Stücke überzeugt, dass uns das Prisma keine Farben zeigt als an den Rändern, wo Licht und Finsternis aneinandergrenzen. Wir haben bemerkt, dass durch sehr spitzwinklige Prismen diese farbigen Ränder nur schmal gesehen werden, da sie hingegen sowohl nach dem Schwarzen als dem Weißen zu sich sehr verbreitern, wenn der brechende Winkel, die refrangierende Kraft des Mittels oder die Entfernung des Beobachters zunimmt

90.
Dieses Phänomen, wenn mir nämlich ein farbiger Rand durchs Prisma da erscheint, wo ich ihn mit bloßen Augen nicht sah, und dieser farbige Rand sich von dem Schwarzen nach dem Weißen und von dem Weißen nach dem Schwarzen zu erstreckt, nenne ich die Strahlung und drücke dadurch gleichsam nur das Phänomen an sich selbst aus, ohne noch irgend auf die Ursache desselben deuten zu wollen.

91.
Da die farbigen Erscheinungen an den Rändern die Grenze des Randes selbst ungewiss machen und die Zeichen, die man sich durch Nadeln oder Punkte feststellen will, auch gefärbt und verzogen werden, so ist die Beobachtung mit einiger Schwierigkeit verknüpft. Durch einen gläsernen Keil von ungefähr zehn Graden erscheinen beide farbigen Ränder sehr zart, unmittelbar am Schwarzen gegen das Weiße zu. Der blaue Saum ist sehr schön hochblau und scheint mit einem feinen Pinsel auf den weißen Rand gezeichnet zu sein. Einen Ausfluss des Strahls nach dem Schwarzen zu bemerkt man nicht ohne die größte Aufmerksamkeit, ja, man muss gleichsam überzeugt sein, dass man ihn sehen müsse, um ihn zu finden. Dagegen ist an dem andern Rande das Hochrote gleichfalls sichtbar, und das Gelbe strahlt nur schwach nach dem Weißen zu. Verdoppelt man die Keile, so sieht man nun deutlich das Violette nach dem Schwarzen, das Gelbe nach dem Weißen zu sich erstrecken, und zwar beide in gleichem Maße. Das Blaue und Rote wird auch breiter, aber es ist schon schwerer zu sagen, ob sich jenes in das Weiße, dieses in das Schwarze verbreitet.

92.
Vielleicht lässt sich in der Folge das, was uns gegenwärtig durch das Auge zu beobachten schwerfällt, auf einem andern Wege finden und näher bestimmen. Soviel aber können wir inzwischen bemerken, dass das Blaue wenig in das Weiße, das Rote wenig in das Schwarze, das Violette viel in das Schwarze, das Gelbe viel in das Weiße hereinstrahlt. Da nun unter der Bedingung, wie wir das Prisma beständig halten, die beiden starken Strahlungen abwärts, die beiden schwächern hinaufwärts gehen, so wird sowohl ein schwarzer Gegenstand auf weißem Grunde als ein weißer auf schwarzem Grunde oben wenig und unten viel gewinnen.
Ich brauche daher das Wort Rand wenn ich von dem schmäleren blauen und roten Farbenstreifen, dagegen das Wort Strahlung, wenn ich von dem breiteren violetten und gelben spreche, obgleich jene schmalen Streifen auch mäßig strahlen und sich verbreitern und die breiteren Strahlungen von den Rändern unzertrennlich sind.
Soviel wird vorerst hinreichen, um den Gebrauch dieses Wortes einigermaßen zu rechtfertigen und meinem Vortrage die nötige Deutlichkeit zu geben.
92, 2. Teil. Statt des Ausdrucks Strahlung gebraucht Goethe später in der Farbenlehre den Ausdruck Saum.