Betrachtungen über Farbenlehre und Farbenbehandlung der Alten

Wie irgend jemand über einen gewissen Fall denke, wird man nur erst recht einsehen, wenn man weiß, wie er überhaupt gesinnt ist. Dieses gilt, wenn wir die Meinungen über wissenschaftliche Gegenstände, es sei nun einzelner Menschen oder ganzer Schulen und Jahrhunderte, recht eigentlich erkennen wollen. Daher ist die Geschichte der Wissenschaften mit der Geschichte der Philosophie innigst verbunden, aber ebenso auch mit der Geschichte des Lebens und des Charakters der Individuen sowie der Völker.
So begreift sich die Geschichte der Farbenlehre auch nur in Gefolge der Geschichte aller Naturwissenschaften. Denn zur Einsicht in den geringsten Teil ist die Übersicht des Ganzen nötig. Auf eine solche Behandlung können wir freilich nur hindeuten; indessen, wenn wir unter unsern Materialien manches mit einführen, was nicht unmittelbar zum Zwecke zu gehören scheint, so ist ihm doch eigentlich nur deswegen der Platz gegönnt, um an allgemeine Bezüge zu erinnern, welches in der Geschichte der Farbenlehre um so notwendiger ist, als sie ihre eigenen Schicksale gehabt hat und auf dem Meere des Wissens bald nur für kurze Zeit auftaucht, bald wieder auf längere niedersinkt und verschwindet.
Inwiefern bei der ersten Entwickelung nachsinnender Menschen mystisch arithmetische Vorstellungsarten wirklich stattgefunden, ist schwer zu beurteilen, da die Dokumente meistens verdächtig sind. Manches andre, was man uns von jenen Anfängen gern möchte glauben machen, ist ebenso unzuverlässig, und wenige werden uns daher verargen, wenn wir den Blick von der Wiege so mancher Nationen weg und dahin wenden, wo uns eine erfreuliche Jugend entgegenkommt.
Die Griechen, welche zu ihren Naturbetrachtungen aus den Regionen der Poesie herüberkamen, erhielten sich dabei noch dichterische Eigenschaften. Sie schauten die Gegenstände tüchtig und lebendig und fühlten sich gedrungen, die Gegenwart lebendig auszusprechen. Suchen sie sich darauf von ihr durch Reflexion loszuwinden, so kommen sie wie jedermann in Verlegenheit, indem sie die Phänomene für den Verstand zu bearbeiten denken. Sinnliches wird aus Sinnlichem erklärt, dasselbe durch dasselbe. Sie finden sich in einer Art von Zirkel und jagen das Unerklärliche immer vor sich her im Kreise herum. Der Bezug zu dem Ähnlichen ist das erste Hilfsmittel, wozu sie greifen. Es ist bequem und nützlich, indem dadurch Symbole entstehen und der Beobachter einen dritten Ort außerhalb des Gegenstandes findet; aber es ist auch schädlich, indem das, was man ergreifen will, sogleich wieder entwischt, und das, was man gesondert hat, wieder zusammenfließt.
Bei solchen Bemühungen fand man gar bald, daß man notwendig aussprechen müsse, was im Subjekt vorgeht, was für ein Zustand in dem Betrachtenden und Beobachtenden erregt wird. Hierauf entstand der Trieb, das Äußere mit dem Innern in der Betrachtung zu vereinen, welches freilich mitunter auf eine Weise geschah, die uns wunderlich, abstrus und unbegreiflich vorkommen muß. Der Billige wird jedoch deshalb nicht übler von ihnen denken, wenn er gestehen muß, daß es uns, ihren späten Nachkommen, oft selbst nicht besser geht.
Aus dem, was uns von den Pythagoreern überliefert wird, ist wenig zu lernen. Daß sie Farbe und Oberfläche mit einem Worte bezeichnen, deutet auf ein sinnlich gutes, aber doch nur gemeines Gewahrwerden, das uns von der tiefern Einsicht in das Penetrative der Farbe ablenkt. Wenn auch sie das Blaue nicht nennen, so werden wir abermals erinnert, daß das Blaue mit dem Dunklen und Schattigen dergestalt innig verwandt ist, daß man es lange Zeit dazu zählen konnte.
Die Gesinnungen und Meinungen Demokrits beziehen sich auf Forderungen einer erhöhten geschärften Sinnlichkeit und neigen sich zum Oberflächlichen. Die Unsicherheit der Sinne wird anerkannt; man findet sich genötigt, nach einer Kontrolle umherzu schauen, die aber nicht gefunden wird. Denn anstatt bei der Verwandtschaft der Sinne nach einem ideellen Sinn aufzublicken, in dem sich alle vereinigten, so wird das Gesehene in ein Getastetes verwandelt, der schärfste Sinn soll sich in den stumpfsten auflösen, uns durch ihn begreiflicher werden. Daher entsteht Ungewißheit anstatt einer Gewißheit. Die Farbe ist nicht, weil sie nicht getastet werden kann, oder sie ist nur insofern, als sie allenfalls tastbar werden könnte. Daher die Symbole von dem Tasten hergenommen werden. Wie sich die Oberflächen glatt, rauh, scharf, eckig und spitz finden, so entspringen auch die Far ben aus diesen verschiedenen Zuständen. Auf welche Weise sich aber hiermit die Behauptung vereinigen lassen, die Farbe sei ganz konventionell, getrauen wir uns nicht aufzulösen. Denn sobald eine gewisse Ei genschaft der Oberfläche eine gewisse Farbe mit sich führt, so kann es doch hier nicht ganz an einem be stimmten Verhältnis fehlen.
Betrachten wir nun Epikur und Lukrez, so geden ken wir einer allgemeinen Bemerkung, daß die origi nellen Lehrer immer noch das Unauflösbare der Auf gabe empfinden und sich ihr auf eine naive gelenke Weise zu nähern suchen. Die Nachfolger werden schon didaktisch, und weiterhin steigt das Dogmati sche bis zum Intoleranten.
Auf diese Weise möchten sich Demokrit, Epikur und Lukrez verhalten. Bei dem letztern finden wir die Gesinnung der erstern, aber schon als Überzeugungs bekenntnis erstarrt und leidenschaftlich parteiisch überliefert.
Jene Ungewißheit dieser Lehre, die wir schon oben bemerkt, verbunden mit solcher Lebhaftigkeit einer Lehrüberlieferung, läßt uns den Übergang zur Lehre der Pyrrhonier finden. Diesen war alles ungewiß, wie es jedem wird, der die zufälligen Bezüge irdischer Dinge gegeneinander zu seinem Hauptaugenmerk macht; und am wenigsten wäre ihnen zu verargen, daß sie die schwankende, schwebende, kaum zu erha schende Farbe für ein unsicheres nichtiges Meteor an sehen: allein auch in diesem Punkte ist nichts von ihnen zu lernen, als was man meiden soll.
Dagegen nahen wir uns dem Empedokles mit Ver trauen und Zuversicht Er erkennt ein Äußeres an, die Materie; ein Inneres, die Organisation. Er läßt die verschiedenen Wirkungen der ersten, das mannigfaltig Verflochtene der andern, gelten. Seine poroi machen uns nicht irre. Freilich entspringen sie aus der gemein- sinnlichen Vorstellungsart. Ein Flüssiges soll sich bestimmt bewegen; da muß es ja wohl eingeschlossen sein, und so ist der Kanal schon fertig. Und doch läßt sich bemerken, daß dieser Alte gedachte Vorstellung keinesweges so roh und körperlich genommen habe als manche Neuern, daß er vielmehr daran nur ein be quemes faßliches Symbol gefunden. Denn die Art, wie das Äußere und Innere eins für das andre da ist, eins mit dem andern übereinstimmt, zeigt sogleich von einer höhern Ansicht, die durch jenen allgemeinen Satz: Gleiches werde nur von Gleichem erkannt, noch geistiger erscheint.
Daß Zeno, der Stoiker, auch irgendwo sichern Fuß fassen werde, läßt sich denken. Jener Ausdruck: die Farben seien die ersten Schematismen der Materie, ist uns sehr willkommen. Denn wenn diese Worte im antiken Sinne auch das nicht enthalten, was wir hinein legen könnten, so sind sie doch immer bedeutend genug. Die Materie tritt in die Erscheinung, sie bildet, sie gestaltet sich. Gestalt bezieht sich auf ein Gesetz und nun zeigt sich in der Farbe, in ihrem Bestehen und Wechseln, ein Naturgesetzliches fürs Auge, von keinem andern Sinne leicht unterscheidbar.
Noch willkommner tritt uns bei Plato jede vorige Denkweise, gereinigt und erhöht, entgegen. Er sondert, was empfunden wird. Die Farbe ist sein viertes Empfindbares. Hier finden wir die Poren, das Innere, das dem Äußern antwortet, wie beim Empedokles, nur geistiger und mächtiger; aber was vor allem ausdrücklich zu bemerken ist, er kennt den Hauptpunkt der ganzen Farben- und Lichtschatten-Lehre, denn er sagt uns: durch das Weiße werde das Gesicht entbunden, durch das Schwarze gesammelt.
Wir mögen anstatt der griechischen Worte sygkrinein und diakrinein in anderen Sprachen setzen, was wir wollen: Zusammenziehen, Ausdehnen, Sammlen, Entbinden, Fesseln, Lösen, rétrécir und développer etc. so finden wir keinen so geistig- kör perlichen Ausdruck für das Pulsieren, in welchem sich Leben und Empfinden ausspricht. Überdies sind die griechischen Ausdrücke Kunstworte, welche bei mehrern Gelegenheiten vorkommen, wodurch sich ihre Bedeutsamkeit jedesmal vermehrt.
So entzückt uns denn auch in diesem Fall, wie in den übrigen, am Plato die heilige Scheu, womit er sich der Natur nähert, die Vorsicht, womit er sie gleichsam nur umtastet und bei näherer Bekanntschaft vor ihr sogleich wieder zurücktritt, jenes Erstaunen, das, wie er selbst sagt, den Philosophen so gut kleidet.
Den übrigen Gehalt jener kurzen, aus dem Timäus ausgezogenen Stelle bringen wir in dem Folgenden nach, indem wir unter dem Namen des Aristoteles alles versammeln können, was den Alten über diesen Gegenstand bekannt gewesen.
Die Alten glaubten an ein ruhendes Licht im Auge; sie fühlten sodann als reine kräftige Menschen die Selbsttätigkeit dieses Organs und dessen Gegenwirken gegen das äußre Sichtbare; nur sprachen sie dieses Gefühl sowie des Fassens, des Ergreifens der Gegenstände mit dem Auge durch allzu krude Gleichnis se aus. Die Einwirkung des Auges nicht aufs Auge allein, sondern auch auf andre Gegenstände erschien ihnen so mächtig wundersam, daß sie eine Art von Bann und Zauber gewahr zu werden glaubten.
Das Sammeln und Entbinden des Auges durch Licht und Finsternis, die Dauer des Eindrucks war ihnen bekannt. Von einem farbigen Abklingen, von einer Art Gegensatz finden sich Spuren. Aristoteles kannte den Wert und die Würde der Beachtung der Gegensätze überhaupt. Wie aber Einheit sich in Zweiheit selbst auseinander lege, war den Alten verborgen. Sie kannten den Magnet, das Elektron, bloß als An ziehen; Polarität war ihnen noch nicht deutlich geworden. Und hat man bis auf die neusten Zeiten nicht auch nur immer der Anziehung die Aufmerksamkeit geschenkt und das zugleich geforderte Abstoßen nur als eine Nachwirkung der ersten schaffenden Kraft betrachtet?
In der Farbenlehre stellten die Alten Licht und Finsternis, Weiß und Schwarz, einander entgegen. Sie bemerkten wohl, daß zwischen diesen die Farben entspringen, aber die Art und Weise sprachen sie nicht zart genug aus, obgleich Aristoteles ganz deutlich sagt, daß hier von keiner gemeinen Mischung die Rede sei.
Derselbe legt einen sehr großen Wert auf die Erkenntnis des Diaphanen, als des Mittels, und kennt so gut als Plato die Wirkung des trüben Mittels zu Hervorbringung des Blauen. Bei allen seinen Schritten aber wird er denn doch durch Schwarz und Weiß, das er bald materiell nimmt, bald symbolisch oder viel mehr rationell behandelt, wieder in die Irre geführt. Die Alten kannten das Gelbe, entspringend aus gemäßigtem Licht, das Blaue bei Mitwirkung der Finsternis; das Rote durch Verdichtung, Beschattung, ob gleich das Schwanken zwischen einer atomistischen und dynamischen Vorstellungsart auch hier oft Undeutlichkeit und Verwirrung erregt.
Sie waren ganz nahe zu der Einteilung gelangt, die auch wir als die günstigste angesehen haben. Einige Farben schrieben sie dem bloßen Lichte zu, andere dem Licht und den Mitteln, andre den Körpern als in wohnend, und bei diesen letztern kannten sie das Oberflächliche der Farbe sowohl als ihr Penetratives und hatten in die Umwandlung der chemischen Farben gute Einsichten. Wenigstens wurden die verschiedenen Fälle wohl bemerkt und die organische Kochung wohl beachtet.
Und so kann man sagen, sie kannten alle die hauptsächlichsten Punkte, worauf es ankommt, aber sie gelangten nicht dazu, ihre Erfahrungen zu reinigen und zusammenzubringen. Und wie einem Schatzgräber, der durch die mächtigsten Formeln den mit Gold und Juwelen gefüllten blinkenden Kessel schon bis an den Rand der Grube heraufgebracht hat, aber ein einziges an der Beschwörung versieht, das nah gehoffte Glück unter Geprassel und Gepolter und dämonischem Hohngelächter wieder zurücksinkt, um auf späte Epochen hinaus abermals verscharrt zu liegen, so ist auch jede unvollendete Bemühung für Jahrhunderte wieder verloren, worüber wir uns jedoch trösten müssen, da sogar von mancher vollendeten Bemühung kaum noch eine Spur übrig bleibt.
Werfen wir nun einen Blick auf das allgemeine Theoretische, wodurch sie das Gewahrgewordne verbinden, so finden wir die Vorstellung, daß die Elemente von den Farben begleitet werden. Die Einteilung der ursprünglichen Naturkräfte in vier Elemente ist für kindliche Sinnen faßlich und erfreulich, ob sie gleich nur oberflächlich gelten kann; aber die unmittelbare Begleitung der Elemente durch Farben ist ein Gedanke, den wir nicht schelten dürfen, da wir ebenfalls in den Farben eine elementare, über alles ausgegossene Erscheinung anerkennen.
Überhaupt aber entsprang die Wissenschaft für die Griechen aus dem Leben. Beschaut man das Büchelchen über die Farben genau, wie gehaltvoll findet man solches. Welch ein Aufmerken, welch ein Aufpassen auf jede Bedingung, unter welcher diese Erscheinung zu beobachten ist. Wie rein, wie ruhig gegen spätre Zeiten, wo die Theorien keinen andern Zweck zu haben schienen, als die Phänomene beiseitezubringen, die Aufmerksamkeit von ihnen abzulenken, ja sie wo möglich aus der Natur zu vertilgen.
Das, was man unter jenen Elementen verstand, mit allen Zufälligkeiten ihres Erscheinens, ward beobachtet: Feuer so gut als Rauch, Wasser so gut als das dar aus entspringende Grün, Luft und ihre Trübe, Erde rein und unrein gedacht. Die apparenten Farben wechseln hin und her; mannigfaltig verändert sich das Organische; die Werkstätten der Färber werden besucht und das Unendliche, Unbestimmbare des engen Kreises recht wohl eingesehen.
Wir leugnen nicht, daß uns manchmal der Gedanke gekommen, eben gedachtes Büchlein umzuschreiben mit so wenig Abänderungen als möglich, wie es sich vielleicht bloß durch Veränderung des Ausdrucks tun ließe. Eine solche Arbeit wäre wohl fruchtbarer, als durch einen weitläuftigen Kommentar auseinanderzusetzen, worin man mit dem Verfasser eins oder uneins wäre. Jedes gute Buch, und besonders die der Alten, versteht und genießt niemand, als wer sie supplieren kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr in ihnen als derjenige, der erst lernen will.
Sehen wir uns aber nach den eigentlichen Ursachen um, wodurch die Alten in ihren Vorschritten gehindert worden, so finden wir sie darin, daß ihnen die Kunst fehlt, Versuche anzustellen, ja sogar der Sinn dazu. Die Versuche sind Vermittler zwischen Natur und Be griff, zwischen Natur und Idee, zwischen Begriff und Idee. Die zerstreute Erfahrung zieht uns allzusehr nie der und ist sogar hinderlich, auch nur zum Begriff zu gelangen. Jeder Versuch aber ist schon theoretisierend; er entspringt aus einem Begriff oder stellt ihn sogleich auf. Viele einzelne Fälle werden unter ein einzig Phänomen subsummiert; die Erfahrung kommt ins Enge, man ist imstande, weiter vorwärts zu gehen.
Die Schwierigkeit, den Aristoteles zu verstehen, entspringt aus der antiken Behandlungsart, die uns fremd ist. Zerstreute Fälle sind aus der gemeinen Empirie aufgegriffen, mit gehörigem und geistreichem Räsonnement begleitet, auch wohl schicklich genug zusammengestellt; aber nun tritt der Begriff ohne Vermittlung hinzu, das Räsonnement geht ins Subtile und Spitzfindige, das Begriffene wird wieder durch Begriffe bearbeitet, anstatt daß man es nun deutlich auf sich beruhen ließe, einzeln vermehrte, massenweise zusammenstellte und erwartete, ob eine Idee daraus entspringen wolle, wenn sie sich nicht gleich von An fang an dazu gesellte.
Hatten wir nun bei der wissenschaftlichen Behandlung, wie sie von den Griechen unternommen worden, wie sie ihnen geglückt, manches zu erinnern, so treffen wir nunmehr, wenn wir ihre Kunstbetrachten, auf einen vollendeten Kreis, der, indem er sich in sich selbst abschließt, doch auch zugleich als Glied in jene Bemühungen eingreift und, wo das Wissen nicht Genüge leistete, uns durch die Tat befriedigt.
Die Menschen sind überhaupt der Kunst mehr gewachsen als der Wissenschaft. Jene gehört zur großen Hälfte ihnen selbst, diese zur großen Hälfte der Welt an. Bei jener läßt sich eine Entwickelung in reiner Folge, diese kaum ohne ein unendliches Zusammen häufen denken. Was aber den Unterschied vorzüglich bestimmt: die Kunst schließt sich in ihren einzelnen Werken ab, die Wissenschaft erscheint uns grenzenlos.
Das Glück der griechischen Ausbildung ist schon oft und trefflich dargestellt worden. Gedenken wir nur ihrer bildenden Kunst und des damit so nahe verwandten Theaters. An den Vorzügen ihrer Plastik zweifelt niemand. Daß ihre Malerei, ihr Helldunkel, ihr Kolorit ebenso hoch gestanden, können wir in vollkommenen Beispielen nicht vor Augen stellen; wir müssen das wenige Übriggebliebene, die historischen Nachrichten, die Analogie, den Naturschritt, das Mögliche zu Hülfe nehmen, wie es der Verfasser des obenstehenden Aufsatzes getan, und es wird uns kein Zweifel übrig bleiben, daß sie auch in diesem Punkte alle ihre Nachfahren übertroffen.
Zu dem gepriesenen Glück der Griechen muß vorzüglich gerechnet werden, daß sie durch keine äußre Einwirkung irre gemacht worden: ein günstiges Ge schick, das in der neuern Zeit den Individuen selten, den Nationen nie zuteil wird; denn selbst vollkommene Vorbilder machen irre, indem sie uns veranlassen, notwendige Bildungsstufen zu überspringen, wo durch wir denn meistens am Ziel vorbei in einen grenzenlosen Irrtum geführt werden.
Kehren wir nun zur Vergleichung der Kunst und Wissenschaft zurück, so begegnen wir folgender Betrachtung: da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im all gemeinen im Überschwenglichen zu suchen, sondern wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.
Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche, sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, entstehen kann.
Wenn diese geforderten Elemente, wo nicht wider sprechend, doch sich dergestalt gegenüberstehend er scheinen möchten, daß auch die vorzüglichsten Geister nicht hoffen dürften, sie zu vereinigen, so liegen sie doch in der gesamten Menschheit offenbar da und können jeden Augenblick hervortreten, wenn sie nicht durch Vorurteile, durch Eigensinn einzelner Besitzen den, und wie sonst alle die verkennenden, zurück schreckenden und tötenden Verneinungen heißen mögen, in dem Augenblick, wo sie allein wirksam sein können, zurückgedrängt werden und die Erscheinung im Entstehen vernichtet wird.
Vielleicht ist es kühn, aber wenigstens in dieser Zeit nötig zu sagen: daß die Gesamtheit jener Elemente vielleicht vor keiner Nation so bereit liegt als vor der deutschen. Denn ob wir gleich, was Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anarchie leben, die uns von jedem erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint, so ist es doch eben diese Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite ins Enge, aus der Zerstreuung zur Vereinigung drängen muß.
Niemals haben sich die Individuen vielleicht mehr vereinzelt und voneinander abgesondert als gegenwärtig. Jeder möchte das Universum vorstellen und aus sich darstellen; aber indem er mit Leidenschaft die Natur in sich aufnimmt so ist er auch das Überlieferte, das, was andre geleistet, in sich aufzunehmen genötigt. Tut er es nicht mit Bewußtsein, so wird es ihm unbewußt begegnen; empfängt er es nicht offenbar und gewissenhaft, so mag er es heimlich und gewissenlos ergreifen; mag er es nicht dankbar anerkennen, so werden ihm andere nachspüren: genug, wenn er nur Eigenes und Fremdes, unmittelbar und mittelbar aus den Händen der Natur oder von Vorgängern Empfangenes tüchtig zu bearbeiten und einer bedeutenden Individualität anzueignen weiß, so wird jederzeit für alle ein großer Vorteil daraus entstehen. Und wie dies nun gleichzeitig schnell und heftig geschieht, so muß eine Übereinstimmung daraus entspringen, das, was man in der Kunst Stil zu nennen pflegt, wodurch die Individualitäten im Rechten und Guten immer näher aneinander gerückt und eben dadurch mehr herausgehoben, mehr begünstigt werden, als wenn sie sich durch seltsame Eigentümlichkeiten karikaturmäßig voneinander zu entfernen streben.
Wem die Bemühungen der Deutschen in diesem Sinne seit mehrern Jahren vor Augen sind, wird sich Beispiele genug zu dem, was wir im allgemeinen aus sprechen, vergegenwärtigen können, und wir sagen getrost in Gefolg unserer Überzeugung: an Tiefe sowie an Fleiß hat es dem Deutschen nie gefehlt. Nähert er sich andern ationen an Bequemlichkeit der Behandlung und übertrifft sie an Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit, so wird man ihm früher oder später die erste Stelle in Wissenschaft und Kunst nicht streitig machen.