Newtons Persöhnlichkeit

Die Absicht dessen, was wir unter dieser Rubrik zu sagen gedenken, ist eigentlich die, jene Rolle eines Gegners und Widersachers, die wir so lange behauptet und auch künftig noch annehmen müssen, auf eine Zeit abzulegen, so billig als möglich zu sein, zu untersuchen, wie so seltsam Widersprechendes bei ihm zusammengehangen und dadurch unsere mitunter gewissermaßen heftige Polemik auszusöhnen. Dass manche wissenschaftliche Rätsel nur durch eine ethische Auflösung begreiflich werden können, gibt man uns wohl zu, und wir wollen versuchen, was uns in dem gegenwärtigen Falle gelingen kann.
Von der englischen Nation und ihren Zuständen ist schon unter Roger Bacon und Baco von Verulam einiges erwähnt worden, auch gibt uns Sprats flüchtiger Aufsatz ein zusammengedrängtes historisches Bild. Ohne hier weiter einzugreifen, bemerken wir nur, dass bei den Engländern vorzüglich bedeutend und schätzenswert ist die Ausbildung so vieler derber, tüchtiger Individuen, eines jeden nach seiner Weise, und zugleich gegen das Öffentliche, gegen das gemeine Wesen: ein Vorzug, den vielleicht keine andere Nation, wenigstens nicht in dem Grade, mit ihr teilt. Die Zeit, in welcher Newton geboren ward, ist eine der prägnantesten in der englischen, ja in der Weltgeschichte überhaupt. Er war sechs Jahre alt, als Karl I. enthauptet wurde, und erlebte die Thronbesteigung Georgs I. Ungeheure Konflikte bewegten Staat und Kirche, jedes für sich und beide gegeneinander, auf die mannigfaltigste und abwechselndste Weise. Ein König ward hingerichtet; entgegengesetzte Volks und Kriegsparteien stürmten widereinander; Regierungsveränderungen, Veränderungen des Ministeriums, der Parlamente folgten sich gedrängt; ein wiederhergestelltes, mit Glanz geführtes Königtum ward abermals erschüttert; ein König vertrieben, der Thron von einem Fremden in Besitz genommen und abermals nicht vererbt, sondern einem Fremden abgetreten.
Wie muss nicht durch eine solche Zeit ein jeder sich angeregt, sich aufgefordert fühlen! Was muss das aber für ein eigener Mann sein, den seine Geburt, seine Fähigkeiten zu mancherlei Anspruch berechtigen und der alles ablehnt und ruhig seinem von Natur eingepflanzten Forscherberuf folgt!
Newton war ein wohlorganisierter, gesunder, wohltemperierter Mann, ohne Leidenschaft, ohne Begierden. Sein Geist war konstruktiver Natur und zwar im abstraktesten Sinne; daher war die höhere Mathematik ihm als das eigentliche Organ gegeben, durch das er seine innere Welt aufzubauen und die äußere zu gewältigen suchte. Wir maßen uns über dieses sein Hauptverdienst kein Urteil an und gestehen gern zu, dass sein eigentliches Talent außer unserm Gesichtskreise liegt; aber, wenn wir aus eigener Überzeugung sagen können: das von seinen Vorfahren Geleistete ergriff er mit Bequemlichkeit und führte es bis zum Erstaunen weiter; die mittleren Köpfe seiner Zeit ehrten und verehrten ihn, die besten erkannten ihn für ihresgleichen oder gerieten gar wegen bedeutender Erfindungen und Entdeckungen mit ihm in Kontestation so dürfen wir ihn wohl, ohne näheren Beweis, mit der übrigen Welt für einen außerordentlichen Mann erklären.
Von der praktischen, von der Erfahrungsseite rückt er uns dagegen schon näher. Hier tritt er in eine Welt ein, die wir auch kennen, in der wir seine Verfahrungsart und seinen Sukzeß zu beurteilen vermögen, um so mehr, als es überhaupt eine unbestrittne Wahrheit ist, dass, so rein und sicher die Mathematik in sich selbst behandelt werden kann, sie doch auf dem Erfahrungsboden sogleich bei jedem Schritte periklitiert und ebenso gut wie jede andere ausgeübte Maxime zum Irrtum verleiten, ja den Irrtum ungeheuer machen und sich künftige Beschämungen vorbereiten kann.
Wie Newton zu seiner Lehre gelangt, wie er sich bei ihrer ersten Prüfung übereilt, haben wir umständlich oben auseinandergesetzt. Er baut seine Theorie sodann konsequent auf, ja er sucht seine Erklärungsart als ein Faktum geltend zu machen; er entfernt alles, was ihr schädlich ist, und ignoriert dieses, wenn er es nicht leugnen kann. Eigentlich kontrovertiert er nicht, sondern wiederholt nur immer seinen Gegnern greift die Sache an wie ich geht auf meinem Wege; richtet alles ein wie ich’s eingerichtet habe; seht wie ich, schließt wie ich, und so werdet ihr finden, was ich gefunden habe: alles andere ist vom Übel. Was sollen hundert Experimente, wenn zwei oder drei meine Theorie auf das beste begründen?
Dieser Behandlungsart, diesem unbiegsamen Charakter ist eigentlich die Lehre ihr ganzes Glück schuldig. Da das Wort Charakter ausgesprochen ist, so werde einigen zudringenden Betrachtungen hier Platz vergönnt.
Jedes Wesen, das sich als eine Einheit fühlt, will sich in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unverrückt erhalten. Dies ist eine ewige notwendige Gabe der Natur, und so kann man sagen, jedes einzelne habe Charakter bis zum Wurm hinunter, der sich krümmt, wenn er getreten wird. In diesem Sinne dürfen wir dem Schwachen, ja dem Feigen selbst Charakter zuschreiben: denn er gibt auf, was andere Menschen über alles schätzen, was aber nicht zu seiner Natur gehört: die Ehre, den Ruhm, nur damit er seine Persönlichkeit erhalte. Doch bedient man sich des Wortes Charakter gewöhnlich in einem höhern Sinne: wenn nämlich eine Persönlichkeit von bedeutenden Eigenschaften auf ihrer Weise verharret und sich durch nichts davon abwendig machen lässt.
Einen starken Charakter nennt man, wenn er sich allen äußerlichen Hindernissen mächtig entgegensetzt und seine Eigentümlichkeit, selbst mit Gefahr seine Persönlichkeit zu verlieren, durchzusetzen sucht. Einen großen Charakter nennt man, wenn die Stärke desselben zugleich mit großen, unübersehlichen, unendlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, verbunden ist und durch ihn ganz originelle unerwartete Absichten, Plane und Taten zum Vorschein kommen.
Ob nun gleich jeder wohl einsieht, dass hier eigentlich das Überschwengliche, wie überhaupt, die Größe macht, so muss man sich doch ja nicht irren und etwa glauben, dass hier von einem Sittlichen die Rede sei. Das Hauptfundament des Sittlichen ist der gute Wille, der seiner Natur nach nur aufs Rechte gerichtet sein kann; das Hauptfundament des Charakters ist das entschiedene Wollen, ohne Rücksicht auf Recht und Unrecht, auf Gut und Böse, auf Wahrheit oder Irrtum: es ist das, was jede Partei an den ihrigen so höchlich schätzt. Der Wille gehört der Freiheit, er bezieht sich auf den innern Menschen, auf den Zweck; das Wollen gehört der Natur und bezieht sich auf die äußere Welt, auf die Tat: und weil das irdische Wollen nur immer ein beschränktes sein kann, so lässt sich beinahe voraussetzen, dass in der Ausübung das höhere Rechte niemals oder nur durch Zufall gewollt werden kann.
Man hat, nach unserer Überzeugung, noch lange nicht genug Beiworte aufgesucht, um die Verschiedenheit der Charaktere auszudrücken. Zum Versuch wollen wir die Unterschiede, die bei der physischen Lehre von der Kohärenz stattfinden, gleichnisweise gebrauchen; und so gäbe es starke, feste, dichte, elastische, biegsame, geschmeidige, dehnbare, starre, zähe, flüssige und wer weiß was sonst noch für Charaktere. Newtons Charakter würden wir unter die starren rechnen, so wie auch seine Farbentheorie als ein erstarrtes Aperçu anzusehen ist.
Was uns gegenwärtig betrifft, so berühren wir eigentlich nur den Bezug des Charakters auf Wahrheit und Irrtum. Der Charakter bleibt derselbe, er mag sich dem einen oder der andern ergeben; und so verringert es die große Hochachtung, die wir für Newton hegen, nicht im geringsten, wenn wir behaupten: er sei als Mensch, als Beobachter in einen Irrtum gefallen und habe als Mann von Charakter, als Sektenhaupt, seine Beharrlichkeit eben dadurch am kräftigsten betätigt, dass er diesen Irrtum trotz allen äußern und innern Warnungen bis an sein Ende fest behauptet, ja immer mehr gearbeitet und sich bemüht, ihn auszubreiten, ihn zu befestigen und gegen alle Angriffe zu schützen.
Und hier tritt nun ein ethisches Haupträtsel ein, das aber demjenigen, der in die Abgründe der menschlichen Natur zu blicken wagte, nicht unauflösbar bleibt. Wir haben in der Heftigkeit des Polemisierens Newtonen sogar einige Unredlichkeit vorgeworfen; wir sprechen gegenwärtig wieder von nicht geachteten inneren Warnungen, und wie wäre dies mit der übrigens anerkannten Moralität eines solchen Mannes zu verbinden?
Der Mensch ist dem Irren unterworfen, und wie er in einer Folge, wie er anhaltend irrt, so wird er sogleich falsch gegen sich und gegen andere; dieser Irrtum mag in Meinungen oder in Neigungen bestehen. Von Neigungen wird es uns deutlicher, weil nicht leicht jemand sein wird, der eine solche Erfahrung nicht an sich gemacht hätte. Man widme einer Person mehr Liebe, mehr Achtung, als sie verdient, sogleich muss man falsch gegen sich und andre werden: man ist genötigt, auffallende Mängel als Vorzüge zu betrachten und sie bei sich wie bei andern dafür gelten zu machen.
Dagegen lassen Vernunft und Gewissen sich ihre Rechte nicht nehmen. Man kann sie belügen, aber nicht täuschen. Ja wir tun nicht zu viel, wenn wir sagen: je moralischer, je vernünftiger der Mensch ist, desto lügenhafter wird er, sobald er irrt, desto ungeheurer muss der Irrtum werden, sobald er darin verharrt; und je schwächer die Vernunft, je stumpfer das Gewissen, desto mehr ziemt der Irrtum dem Menschen, weil er nicht gewarnt ist. Das Irren wird nur bedauernswert, ja es kann liebenswürdig erscheinen.
Ängstlich aber ist es anzusehen, wenn ein starker Charakter, um sich selbst getreu zu bleiben, treulos gegen die Welt wird und um innerlich wahr zu sein, das Wirkliche für eine Lüge erklärt und sich dabei ganz gleichgültig erzeigt, ob man ihn für halsstarrig, verstockt, eigensinnig, oder für lächerlich halte. Dem ungeachtet bleibt der Charakter immer Charakter, er mag das Rechte oder das Unrechte, das Wahre oder das Falsche wollen und eifrig dafür arbeiten.
Allein hiermit ist noch nicht das ganze Rätsel aufgelöst; noch ein Geheimnisvolleres liegt dahinter. Es kann sich nämlich im Menschen ein höheres Bewusstsein finden, so dass er über die notwendige ihm einwohnende Natur, an der er durch alle Freiheit nichts zu verändern vermag, eine gewisse Übersicht erhält. Hierüber völlig ins klare zu kommen, ist beinahe unmöglich; sich in einzelnen Augenblicken zu schelten, geht wohl an, aber niemanden ist gegeben, sich fortwährend zu tadeln. Greift man nicht zu dem gemeinen Mittel, seine Mängel auf die Umstände, auf andere Menschen zu schieben, so entsteht zuletzt aus dem Konflikt eines vernünftig richtenden Bewusstseins mit der zwar modifikablen, aber doch unveränderlichen Natur eine Art von Ironie in und mit uns selbst, so dass wir unsere Fehler und Irrtümer wie ungezogene Kinder spielend behandeln, die uns vielleicht nicht so lieb sein würden, wenn sie nicht eben mit solchen Unarten behaftet wären.
Diese Ironie, dieses Bewusstsein, womit man seinen Mängeln nachsieht, mit seinen Irrtümern scherzt und ihnen desto mehr Raum und Lauf lässt, weil man sie doch am Ende zu beherrschen glaubt oder hofft, kann von der klarsten Verruchtheit bis zur dumpfsten Ahndung sich in mancherlei Subjekten stufenweise finden, und wir getrauten uns eine solche Galerie von Charakteren, nach lebendigen und abgeschiedenen Mustern, wenn es nicht allzu verfänglich wäre, wohl aufzustellen. Wäre alsdann die Sache durch Beispiele völlig aufgeklärt, so würde uns niemand verargen, wenn er Newtonen auch in der Reihe fände, der eine trübe Ahndung seines Unrechts gewiss gefühlt hat.
Denn wie wäre es einem der ersten Mathematiker möglich, sich einer solchen Unmethode zu bedienen, dass er schon in den Optischen Lektionen, indem er die diverse Refrangibilität festsetzen will, den Versuch mit parallelen Mitteln, der ganz an den Anfang gehört, weil die Farbenerscheinung sich da zuerst entwickelt, ganz zuletzt bringt; wie konnte einer, dem es darum zu tun gewesen wäre, seine Schüler mit den Phänomenen im ganzen Umfang bekannt zu machen, um darauf eine haltbare Theorie zu bauen, wie konnte der die subjektiven Phänomene gleichfalls erst gegen das Ende und keineswegs in einem gewissen Parallelismus mit den objektiven abhandeln; wie konnte er sie für unbequem erklären, da sie ganz ohne Frage die bequemeren sind: wenn er nicht der Natur ausweichen und seine vorgefasste Meinung vor ihr sicher stellen wollte? Die Natur spricht nichts aus, was ihr selbst unbequem wäre; desto schlimmer, wenn sie einem Theoretiker unbequem wird.
Nach allem diesem wollen wir, weil ethische Probleme auf gar mancherlei Weise aufgelöst werden können, noch die Vermutung anführen, dass vielleicht Newton an seiner Theorie so viel Gefallen gefunden, weil sie ihm, bei jedem Erfahrungsschritte, neue Schwierigkeiten darbot. So sagt ein Mathematiker selber: C’est la coutume des Géomètres de s’élever de difficultés en difficultés, et même de s’en former sans cesse de nouvelles, pour avoir le plaisir de les surmonter.
Wollte man aber auch so den vortrefflichen Mann nicht genug entschuldigt haben, so werfe man einen Blick auf die Naturforschung seiner Zeiten, auf das Philosophieren über die Natur, wie es teils von Descartes her, teils durch andere vorzügliche Männer üblich geworden war, und man wird aus diesen Umgebungen sich Newtons eigenen Geisteszustand eher vergegenwärtigen können.
Auf diese und noch manche andere Weise möchten wir den Manen Newtons, insofern wir sie beleidigt haben könnten, eine hinlängliche Ehrenerklärung tun. Jeder Irrtum, der aus dem Menschen und aus den Bedingungen, die ihn umgeben, unmittelbar entspringt, ist verzeihlich, oft ehrwürdig; aber alle Nachfolger im Irrtum können nicht so billig behandelt werden. Eine nachgesprochene Wahrheit verliert schon ihre Grazie; ein nachgesprochener Irrtum erscheint abgeschmackt und lächerlich. Sich von einem eigenen Irrtum loszumachen, ist schwer, oft unmöglich bei großem Geist und großen Talenten; wer aber einen fremden Irrtum aufnimmt und halsstarrig dabei verbleibt, zeigt von gar geringem Vermögen. Die Beharrlichkeit eines original Irrenden kann uns erzürnen; die Hartnäckigkeit der Irrtumskopisten macht verdrießlich und ärgerlich. Und wenn wir in dem Streit gegen die Newtonische Lehre manchmal aus den Grenzen der Gelassenheit herausgeschritten sind, so schieben wir alle Schuld auf die Schule, deren Inkompetenz und Dünkel deren Faulheit und Selbstgenügsamkeit, deren Ingrimm und Verfolgungsgelüst miteinander durchaus in Proportion und Gleichgewicht stehen.