389.
Die paroptischen Farben wurden bisher perioptische genannt, weil man sich eine Wirkung des Lichts gleichsam um den Körper herum dachte, die man einer gewissen Biegbarkeit des Lichtes nach dem Körper hin und vom Körper ab zuschrieb.
390.
Auch diese Farben kann man in objektive und subjektive einteilen, weil auch sie teils außer uns, gleichsam wie auf der Fläche gemalt, teils in uns, un-mittelbar auf der Retina, erscheinen. Wir finden bei diesem Kapitel das vorteilhafteste, die objektiven zuerst zu nehmen, weil die subjektiven sich so nah an andre uns schon bekannte Erscheinungen anschließen, dass man sie kaum davon zu trennen vermag.
391.
Die paroptischen Farben werden also genannt, weil, um sie hervorzubringen, das Licht an einem Rande herstrahlen muss. Allein nicht immer, wenn das Licht an einem Rande herstrahlt, erscheinen sie; es sind dazu noch ganz besondre Nebenbedingungen nötig.
392.
Ferner ist zu bemerken, dass hier abermals das Licht keineswegs in abstracto wirke (361); sondern die Sonne scheint an einem Rande her. Das ganze von dem Sonnenbild ausströmende Licht wirkt an einer Körpergrenze vorbei und verursacht Schatten. An diesen Schatten, innerhalb derselben, werden wir künftig die Farbe gewahr werden.
393.
Vor allen Dingen aber betrachten wir die hierher gehörigen Erfahrungen in vollem Lichte. Wir setzen den Beobachter ins Freie, ehe wir ihn in die Beschränkung der dunklen Kammer führen.
394.
Wer im Sonnenschein in einem Garten oder sonst auf glatten Wegen wandelt, wird leicht bemerken, dass sein Schatten nur unten am Fuß, der die Erde betritt, scharf begrenzt erscheint, weiter hinauf, besonders um das Haupt, verfließt er sanft in die helle Fläche. Denn indem das Sonnenlicht nicht allein aus der Mitte der Sonne herströmt, sondern auch von den beiden Enden dieses leuchtenden Gestirnes übers Kreuz wirkt, so entsteht eine objektive Parallaxe, die an beiden Seiten des Körpers einen Halbschatten hervorbringt.
395.
Wenn der Spaziergänger seine Hand erhebt, so sieht er an den Fingern deutlich das Auseinanderweichen der beiden Halbschatten nach außen, die Verschmälerung des Hauptschattens nach innen, beides Wirkungen des sich kreuzenden Lichtes.
396.
Man kann vor einer glatten Wand diese Versuche mit Stäben von verschiedener Stärke, sowie auch mit Kugeln wiederholen und vervielfältigen; immer wird man finden, dass je weiter der Körper von der Tafel entfernt wird, desto mehr verbreitet sich der schwache Doppelschatten, desto mehr verschmälert sich der starke Hauptschatten, bis dieser zuletzt ganz aufgehoben scheint, ja die Doppelschatten endlich so schwach werden, dass sie beinahe verschwinden, wie sie denn in mehrerer Entfernung unbemerklich sind.
397.
Dass dieses von dem sich kreuzenden Lichte herrühre, davon kann man sich leicht überzeugen; so wie denn auch der Schatten eines zugespitzten Körpers zwei Spitzen deutlich zeigt. Wir dürfen also niemals außer Augen lassen, dass in diesem Falle das ganze Sonnenbild wirke, Schatten hervorbringe, sie in Doppelschatten verwandle und endlich sogar aufhebe.
398.
Man nehme nunmehr, statt der festen Körper, ausgeschnittene Öffnungen von verschiedener bestimmter Größe nebeneinander und lasse das Sonnenlicht auf eine etwas entfernte Tafel hindurch fallen, so wird man finden, dass das helle Bild, welches auf der Tafel von der Sonne hervorgebracht wird, größer sei als die Öffnung; welches daher kommt, dass der eine Rand der Sonne durch die entgegengesetzte Seite der Öffnung noch hindurch scheint, wenn der andre durch sie schon verdeckt ist. Daher ist das helle Bild an seinen Rändern schwächer beleuchtet.
399.
Nimmt man viereckte Öffnungen von welcher Größe man wolle, so wird das helle Bild auf einer Tafel, die neun Fuß von den Öffnungen steht, um einen Zoll an jeder Seite größer sein als die Öffnung; welches mit dem Winkel des scheinbaren Sonnendiameters ziemlich übereinkommt.
400.
Dass eben diese Randerleuchtung nach und nach abnehme, ist ganz natürlich, weil zuletzt nur ein Minimum des Sonnenlichtes vom Sonnenrande übers Kreuz durch den Rand der Öffnung einwirken kann.
401.
Wir sehen also hier abermals, wie sehr wir Ursache haben, uns in der Erfahrung vor der Annahme von parallelen Strahlen, Strahlenbüscheln und -bündeln und dergleichen hypothetischen Wesen zu hüten (309, 310).
402.
Wir können uns vielmehr das Scheinen der Sonne oder irgendeines Lichtes als eine unendliche Abspiegelung des beschränkten Lichtbildes vorstellen; woraus sich denn wohl ableiten lässt, wie alle viereckte Öffnungen, durch welche die Sonne scheint, in gewissen Entfernungen, je nachdem sie größer oder kleiner sind, ein rundes Bild geben müssen.
403.
Obige Versuche kann man durch Öffnungen von mancherlei Form und Größe wiederholen, und es wird sich immer dasselbe in verschiedenen Abweichungen zeigen; wobei man jedoch immer bemerken wird, dass im vollen Lichte, und bei der einfachen Operation des Herscheinens der Sonne an einem Rand, keine Farbe sich sehen lasse.
404.
Wir wenden uns daher zu den Versuchen mit dem gedämpften Lichte, welches nötig ist, damit die Farbenerscheinung eintrete. Man mache eine kleine Öffnung in den Laden der dunklen Kammer, man fange das übers Kreuz eindringende Sonnenbild mit einem weißen Papiere auf, und man wird, je kleiner die Öffnung ist, ein desto matteres Licht erblicken; und zwar ganz natürlich, weil die Erleuchtung nicht von der ganzen Sonne, sondern nur von einzelnen Punkten, nur teilweise gewirkt wird.
405.
Betrachtet man dieses matte Sonnenbild genau, so findet man es gegen seine Ränder zu immer matter und mit einem gelben Saume begrenzt, der sich deutlich zeigt, am deutlichsten aber, wenn sich ein Nebel oder eine durchscheinende Wolke vor die Sonne zieht, ihr Licht mäßiget und dämpft. Sollten wir uns nicht gleich hierbei jenes Hofes an der Wand und des Scheins eines nahe davorstehenden Lichtes erinnern? (88)
406.
Betrachtet man jenes oben beschriebene Sonnenbild genauer, so sieht man, dass es mit diesem gelben Saume noch nicht abgetan ist, sondern man bemerkt noch einen zweiten blaulichen Kreis, wo nicht gar eine hofartige Wiederholung des Farbensaums. Ist das Zimmer recht dunkel, so sieht man, dass der zunächst um die Sonne erhellte Himmel gleichfalls einwirkt, man sieht den blauen Himmel, ja sogar die ganze Landschaft auf dem Papiere und überzeugt sich abermals, dass hier nur von dem Sonnenbilde die Rede sei.
407.
Nimmt man eine etwas größere, viereckte Öffnung, welche durch das Hineinstrahlen der Sonne nicht gleich rund wird, so kann man die Halbschatten von jedem Rande, das Zusammentreffen derselben in den Ecken, die Färbung derselben, nach Maßgabe obgemeldeter Erscheinung der runden Öffnung, genau bemerken.
408.
Wir haben nunmehr ein parallaktisch scheinendes Licht gedämpft, indem wir es durch kleine Öffnungen scheinen ließen, wir haben ihm aber seine parallaktische Eigenschaft nicht genommen, so dass es abermals Doppelschatten der Körper, wenn gleich mit gedämpfter Wirkung, hervorbringen kann. Diese sind nunmehr diejenigen, auf welche man bisher aufmerksam gewesen, welche in verschiedenen hellen und dunkeln, farbigen und farblosen Kreisen aufeinander folgen und vermehrte, ja gewissermaßen unzählige Höfe hervorbringen. Sie sind oft gezeichnet und in Kupfer gestochen worden, indem man Nadeln, Haare und andre schmale Körper in das gedämpfte Licht brachte, die vielfachen hofartigen Doppelschatten bemerkte und sie einer Aus- und Einbiegung des Lichtes zuschrieb, und dadurch erklären wollte, wie der Kernschatten aufgehoben und wie ein Helles an der Stelle des Dunkeln erscheinen könne.
409.
Wir aber halten vorerst daran fest, dass es abermals parallaktische Doppelschatten sind, welche mit farbigen Säumen und Höfen begrenzt erscheinen.
410.
Wenn man alles dieses nun gesehen, untersucht und sich deutlich gemacht hat, so kann man zu dem Versuche mit den Messerklingen schreiten, welches nur ein Aneinanderrücken und parallaktisches Übereinandergreifen der uns schon bekannten Halbschatten und Höfe genannt werden kann.
411.
Zuletzt hat man jene Versuche mit Haaren, Nadeln und Drähten in jenem Halblichte, das die Sonne wirkt, sowie im Halblichte, das sich vom blauen Himmel herschreibt und auf dem Papiere zeigt, anzustellen und zu betrachten; wodurch man der wahren Ansicht dieser Phänomene sich immer mehr bemeistern wird.
412.
Da nun aber bei diesen Versuchen alles darauf ankommt, dass man sich von der parallaktischen Wirkung des scheinenden Lichtes überzeuge, so kann man sich das, worauf es ankommt, durch zwei Lichter deutlicher machen, wodurch sich die zwei Schatten übereinander führen und völlig sondern lassen. Bei Tage kann es durch zwei Öffnungen am Fensterladen geschehen, bei Nacht durch zwei Kerzen; ja es gibt manche Zufälligkeiten in Gebäuden beim Auf und Zuschlagen von Läden, wo man diese Erscheinungen besser beobachten kann als bei dem sorgfältigsten Apparate. Jedoch lassen sich alle und jede zum Versuch erheben, wenn man einen Kasten einrichtet, in den man oben hineinsehen kann und dessen Türe man sachte zulehnt, nachdem man vorher ein Doppellicht einfallen lassen. Dass hierbei die von uns unter den physiologischen Farben abgehandelten farbigen Schatten sehr leicht eintreten, lässt sich erwarten.
413.
Überhaupt erinnre man sich, was wir über die Natur der Doppelschatten, Halblichter und dergleichen früher ausgeführt haben, besonders aber mache man Versuche mit verschiedenen nebeneinander gestellten Schattierungen von Grau, wo jeder Streif an seinem dunklen Nachbar hell, am hellen dunkel erscheinen wird. Bringt man abends mit drei oder mehreren Lichtern Schatten hervor, die sich stufen weise decken, so kann man dieses Phänomen sehr deutlich gewahr werden, und man wird sich überzeugen, dass hier der physiologische Fall eintritt, den wir oben weiter ausgeführt haben (38).
414.
Inwiefern nun aber alles, was von Erscheinungen die paroptischen Farben begleitet, aus der Lehre vom gemäßigten Lichte, von Halbschatten und von physiologischer Bestimmung der Retina sich ableiten lasse, oder ob wir genötigt sein werden, zu gewissen innern Eigenschaften des Lichts unsere Zuflucht zu nehmen, wie man es bisher getan, mag die Zeit lehren. Hier sei es genug, die Bedingungen angezeigt zu haben, unter welchen die paroptischen Farben entstehen, so wie wir denn auch hoffen können, dass unsre Winke auf den Zusammenhang mit dem bisherigen Vortrag von Freunden der Natur nicht unbeachtet bleiben werden.
415.
Die Verwandtschaft der paroptischen Farben mit den dioptrischen der zweiten Klasse wird sich auch jeder Denkende gern ausbilden. Hier wie dort ist von Rändern die Rede; hier wie dort von einem Lichte, das an dem Rande herscheint. Wie natürlich ist es also, dass die paroptischen Wirkungen durch die dioptrischen erhöht, verstärkt und verherrlicht werden können. Doch kann hier nur von den objektiven Refraktionsfällen die Rede sein, da das leuchtende Bild wirklich durch das Mittel durchscheint: denn diese sind eigentlich mit den paroptischen verwandt. Die subjektiven Refraktionsfälle, da wir die Bilder durchs Mittel sehen, stehen aber von den paroptischen völlig ab, und sind auch schon wegen ihrer Reinheit von uns gepriesen worden.
416.
Wie die paroptischen Farben mit den katoptrischen zusammenhängen, lässt sich aus dem Gesagten schon vermuten: denn da die katoptrischen Farben nur an Ritzen, Punkten, Stahlsaiten, zarten Fäden sich zeigen, so ist es ungefähr derselbe Fall, als wenn das Licht an einem Rande herschiene. Es muss jederzeit von einem Rande zurück scheinen, damit unser Auge eine Farbe gewahr werde. Wie auch hier die Beschränkung des leuchtenden Bildes, sowie die Mäßigung des Lichtes, zu betrachten sei, ist oben schon angezeigt worden.
417.
Von den subjektiven paroptischen Farben führen wir nur noch weniges an, weil sie sich teils mit den physiologischen, teils mit den dioptrischen der zweiten Klasse in Verbindung setzen lassen, und sie größtenteils kaum hierher zu gehören scheinen, ob sie gleich, wenn man genau aufmerkt, über die ganze Lehre und ihre Verknüpfung ein erfreuliches Licht verbreiten.
418.
Wenn man ein Lineal dergestalt vor die Augen hält, dass die Flamme des Lichts über dasselbe hervorscheint, so sieht man das Lineal gleichsam eingeschnitten und schartig an der Stelle, wo das Licht hervorragt. Es scheint sich dieses aus der ausdehnenden Kraft des Lichtes auf der Retina ableiten zu lassen (18).
419.
Dasselbige Phänomen im großen zeigt sich beim Aufgang der Sonne, welche, wenn sie rein, aber nicht allzu mächtig, aufgeht, also dass man sie noch anblicken kann, jederzeit einen scharfen Einschnitt in den Horizont macht.
420.
Wenn man bei grauem Himmel gegen ein Fenster tritt, so dass das dunkle Kreuz sich gegen denselben abschneidet, wenn man die Augen alsdann auf das horizontale Holz richtet, ferner den Kopf etwas vorzubiegen, zu blinzen und aufwärts zu sehen anfängt, so wird man bald unten an dem Holze einen schönen gelbroten Saum, oben über demselben einen schönen hellblauen entdecken. Je dunkelgrauer und gleicher der Himmel, je dämmernder das Zimmer und folglich je ruhiger das Auge, desto lebhafter wird sich die Erscheinung zeigen, ob sie sich gleich einem aufmerksamen Beobachter auch bei hellem Tage darstellen wird.
421.
Man biege nunmehr den Kopf zurück und blinzle mit den Augen dergestalt, dass man den horizontalen Fensterstab unter sich sehe, so wird auch das Phänomen umgekehrt erscheinen. Man wird nämlich die obere Kante gelb und die untere blau sehen.
422.
In einer dunkeln Kammer stellen sich die Beobachtungen am besten an. Wenn man vor die Öffnung, vor welche man gewöhnlich das Sonnen-Mikroskop schraubt, ein weißes Papier heftet, wird man den untern Rand des Kreises blau, den obern gelb erblicken, selbst indem man die Augen ganz offen hat, oder sie nur insofern zublinzt, dass kein Hof sich mehr um das Weiße herum zeigt. Biegt man den Kopf zurück, so sieht man die Farben umgekehrt.
423.
Diese Phänomene scheinen daher zu entstehen, dass die Feuchtigkeiten unsres Auges eigentlich nur in der Mitte, wo das Sehen vorgeht, wirklich achromatisch sind, dass aber gegen die Peripherie zu, und in unnatürlichen Stellungen, als Auf- und Niederbiegen des Kopfes, wirklich eine chromatische Eigenschaft, besonders wenn scharf absetzende Bilder betrachtet werden, übrig bleibe. Daher diese Phänomene zu jenen gehören mögen, welche mit den dioptrischen der zweiten Klasse verwandt sind.
424.
Ähnliche Farben erscheinen, wenn man gegen schwarze und weiße Bilder durch den Nadelstich einer Karte sieht. Statt des weißen Bildes kann man auch den lichten Punkt im Bleche des Ladens der Camera obscura wählen, wenn die Vorrichtung zu den paroptischen Farben gemacht ist.
425.
Wenn man durch eine Röhre durchsieht, deren untere Öffnung verengt oder durch verschiedene Ausschnitte bedingt ist, erscheinen die Farben gleichfalls.
426.
An die paroptischen Erscheinungen aber schließen sich meines Bedünkens folgende Phänomene näher an. Wenn man eine Nadelspitze nah vor das Auge hält, so entsteht in demselben ein Doppelbild. Besonders merkwürdig ist aber, wenn man durch die zu paroptischen Versuchen eingerichteten Messerklingen hindurch und gegen einen grauen Himmel sieht. Man blickt nämlich wie durch einen Flor, und es zeigen sich im Auge sehr viele Fäden, welches eigentlich nur die wiederholten Bilder der Klingenschärfen sind, davon das eine immer von dem folgenden sukzessiv oder wohl auch von dem gegenüber wirkenden parallaktisch bedingt und in eine Fadengestalt verwandelt wird.
427.
So ist denn auch noch schließlich zu bemerken, dass, wenn man durch die Klingen nach einem lichten Punkt im Fensterladen hinsieht, auf der Retina dieselben farbigen Streifen und Höfe wie auf dem Papiere entstehen.
428.
Und so sei dieses Kapitel gegenwärtig um so mehr geschlossen, als ein Freund übernommen hat, dasselbe nochmals genau durchzuexperimentieren, von dessen Bemerkungen wir bei Gelegenheit der Revision der Tafeln und des Apparats in der Folge weitere Rechenschaft zu geben hoffen.