197.
Haben wir bei den vorigen Versuchen und Beobachtungen alle reinen Flächen, groß oder klein, farblos gefunden, so bemerken wir an den Rändern, da wo sich eine solche Fläche gegen einen hellern oder dunkleren Gegenstand abschneidet, eine farbige Erscheinung.
198.
Durch Verbindung von Rand und Fläche entstehen Bilder. Wir sprechen daher die Haupterfahrung dergestalt aus: es müssen Bilder verrückt werden, wenn eine Farbenerscheinung sich zeigen soll.
199.
Wir nehmen das einfachste Bild vor uns, ein helles Rund auf dunklem Grunde A. An diesem findet eine Verrückung statt, wenn wir seine Ränder von dem Mittelpunkte aus scheinbar nach außen dehnen, indem wir es vergrößern. Dieses geschieht durch jedes konvexe Glas, und wir erblicken in diesem Falle einen blauen Rand B.
200.
Den Umkreis eben desselben Bildes können wir nach dem Mittelpunkte zu scheinbar hineinbewegen, indem wir das Rund zusammenziehen; da als dann die Ränder gelb erscheinen C. Dieses geschieht durch ein konkaves Glas, das aber nicht, wie die gewöhnlichen Lorgnetten, dünn geschliffen sein darf, sondern einige Masse haben muss. Damit man aber diesen Versuch auf einmal mit dem konvexen Glas machen könne, so bringe man in das helle Rund auf schwarzem Grunde eine kleinere schwarze Scheibe. Denn vergrößert man durch ein konvexes Glas die schwarze Scheibe auf weißem Grund, so geschieht dieselbe Operation, als wenn man ein weißes Rund verkleinerte: denn wir führen den schwarzen Rand nach dem weißen zu; und wir erblicken also den gelblichen Farbenrand zugleich mit dem blauen D.
201.
Diese beiden Erscheinungen, die blaue und gelbe, zeigen sich an und über dem Weißen. Sie nehmen, insofern sie über das Schwarze reichen, einen rötlichen Schein an.
202.
Und hiermit sind die Grundphänomene aller Farbenerscheinung bei Gelegenheit der Refraktion ausgesprochen, welche denn freilich auf mancherlei Weise wiederholt, variiert, erhöht, verringert, verbunden, verwickelt, verwirrt, zuletzt aber immer wieder auf ihre ursprüngliche Einfalt zurückgeführt werden können.
203.
Untersuchen wir nun die Operation, welche wir vorgenommen, so finden wir, dass wir in dem einen Falle den hellen Rand gegen die dunkle, in dem andern den dunkeln Rand gegen die helle Fläche scheinbar geführt, eins durch das andre verdrängt, eins über das andre weggeschoben haben. Wir wollen nunmehr sämtliche Erfahrungen schrittweise zu entwickeln suchen.
204.
Rückt man die helle Scheibe, wie es besonders durch Prismen geschehen kann, im ganzen von ihrer Stelle, so wird sie in der Richtung gefärbt, in der sie scheinbar bewegt wird, und zwar nach jenen Gesetzen. Man betrachte durch ein Prisma die in a befindliche Scheibe dergestalt, dass sie nach b verrückt erscheine, so wird der obere Rand, nach dem Gesetz der Figur B, blau und blaurot erscheinen, der untere, nach dem Gesetz der Scheibe C, gelb und gelbrot. Denn im ersten Fall wird das helle Bild in den dunklen Rand hinüber-, und in dem andern der dunkle Rand über das helle Bild gleichsam hineingeführt. Ein Gleiches gilt, wenn man die Scheibe von a nach c, von a nach d, und so im ganzen Kreise scheinbar herumführt.
205.
Wie sich nun die einfache Wirkung verhält, so verhält sich auch die zusammengesetzte. Man sehe durch das horizontale Prisma a b nach einer hinter demselben in einiger Entfernung befindlichen weißen Scheibe in e, so wird die Scheibe nach f erhoben und nach dem obigen Gesetz gefärbt sein. Man hebe dies Prisma weg und schaue durch ein vertikales c d nach eben dem Bilde, so wird es in h erscheinen, und nach eben demselben Gesetze gefärbt. Man bringe nun beide Prismen übereinander, so erscheint die Scheibe, nach einem allgemeinen Naturgesetz, in der Diagonale verrückt und gefärbt, wie es die Richtung e g mit sich bringt.
206.
Geben wir auf diese entgegengesetzten Farbenränder der Scheibe wohl acht, so finden wir, dass sie nur in der Richtung ihrer scheinbaren Bewegung entstehen. Ein rundes Bild lässt uns über dieses Verhältnis einigermaßen ungewiss; ein vierecktes hingegen belehrt uns klärlich darüber.
207.
Das viereckte Bild a, in der Richtung a b oder a d verrückt, zeigt uns an den Seiten, die mit der
Richtung parallel gehen, keine Farben; in der Richtung a c hingegen, da sich das Quadrat in seiner eignen Diagonale bewegt, erscheinen alle Grenzen des Bildes gefärbt.
208.
Hier bestätigt sich also jener Ausspruch (203f.), ein Bild müsse dergestalt verrückt werden, dass seine helle Grenze über die dunkle, die dunkle Grenze aber über die helle, das Bild über seine Begrenzung, die Begrenzung über das Bild scheinbar hingeführt werde. Bewegen sich aber die geradlinigen Grenzen eines Bildes durch Refraktion immerfort, dass sie nur nebeneinander, nicht aber übereinander ihren Weg zurücklegen, so entstehen keine Farben, und wenn sie auch bis ins Unendliche fortgeführt würden.
Bedingungen unter welchen die Farbenerscheinung zunimmt
209.
Wir haben in dem vorigen gesehen, dass alle Farbenerscheinung bei Gelegenheit der Refraktion darauf beruht, dass der Rand eines Bildes gegen das Bild selbst oder über den Grund gerückt, dass das Bild gleichsam über sich selbst oder über den Grund hin geführt werde. Und nun zeigt sich auch, bei vermehrter Verrückung des Bildes, die Farbenerscheinung in einem breitern Maße, und zwar bei subjektiven Versuchen, bei denen wir immer noch verweilen, unter folgenden Bedingungen.
210.
Erstlich, wenn das Auge gegen parallele Mittel eine schiefere Richtung annimmt. Zweitens, wenn das Mittel aufhört, parallel zu sein, und einen mehr oder weniger spitzen Winkel bildet. Drittens durch das verstärkte Maß des Mittels; es sei nun, dass parallele Mittel am Volumen zunehmen, oder die Grade des spitzen Winkels verstärkt werden, doch so, dass sie keinen rechten Winkel erreichen. Viertens durch Entfernung des mit brechenden Mitteln bewaffneten Auges von dem zu verrückenden Bilde. Fünftens durch eine chemische Eigenschaft, welche dem Glase mitgeteilt, auch in demselben erhöht werden kann.
211.
Die größte Verrückung des Bildes, ohne dass desselben Gestalt bedeutend verändert werde, bringen wir durch Prismen hervor, und dies ist die Ursache, warum durch so gestaltete Gläser die Farbenerscheinung höchst mächtig werden kann. Wir wollen uns jedoch bei dem Gebrauch derselben von jenen glänzenden Erscheinungen nicht blenden lassen, vielmehr die oben festgesetzten einfachen Anfänge ruhig im Sinne behalten.
212.
Diejenige Farbe, welche bei Verrückung eines Bildes vorausgeht, ist immer die breitere, und wir nennen sie einen Saum; diejenige Farbe, welche an der Grenze zurückbleibt, ist die schmälere, und wir nennen sie einen Rand.
213.
Bewegen wir eine dunkle Grenze gegen das Helle, so geht der gelbe breitere Saum voran, und der schmälere gelbrote Rand folgt mit der Grenze. Rücken wir eine helle Grenze gegen das Dunkle, so geht der breitere violette Saum voraus und der schmälere blaue Rand folgt.
214.
Ist das Bild groß, so bleibt dessen Mitte ungefärbt. Sie ist als eine unbegrenzte Fläche anzusehen, die verrückt, aber nicht verändert wird. Ist es aber so schmal, dass unter obgedachten vier Bedingungen der gelbe Saum den blauen Rand erreichen kann, so wird die Mitte völlig durch Farben zugedeckt. Man mache diesen Versuch mit einem weißen Streifen auf schwarzem Grunde; über einem solchen werden sich die bei den Extreme bald vereinigen und das Grün erzeugen. Man erblickt alsdann folgende Reihe von Farben:Gelbrot
Gelb
Grün
Blau
Blaurot
215.
Bringt man auf weiß Papier einen schwarzen Streifen, so wird sich der violette Saum darüber hin breiten und den gelbroten Rand erreichen. Hier wird das dazwischen liegende Schwarz, so wie vorher das dazwischen liegende Weiß, aufgehoben und an seiner Stelle ein prächtig reines Rot erscheinen, das wir oft mit dem Namen Purpur bezeichnet haben. Nunmehr ist die Farbenfolge nachstehende:
Blau
Blaurot
Purpur
Gelbrot
Gelb
216.
Nach und nach können in dem ersten Falle (214) Gelb und Blau dergestalt übereinander greifen, dass diese beiden Farben sich völlig zu Grün verbin den und das farbige Bild folgendermaßen erscheint:
Gelbrot
Grün
Blaurot
Im zweiten Falle (215) sieht man unter ähnlichen Umständen nur:
Blau
Purpur
Gelb
Welche Erscheinung am schönsten sich an Fensterstäben zeigt, die einen grauen Himmel zum Hintergrunde haben.
217.
Bei allem diesem lassen wir niemals aus dem Sinne, dass diese Erscheinung nie als eine fertige, voll endete, sondern immer als eine werdende, zunehmende und in manchem Sinn bestimmbare Erscheinung anzusehen sei. Deswegen sie auch bei Negation obiger fünf Bedingungen (210) wieder nach und nach abnimmt und zuletzt völlig verschwindet.