X. Farbige Flächen durchs Prisma betrachtet

101.
Eine farbige große Fläche zeigt keine prismatischen Farben, eben wie schwarze, weiße und graue Flächen, es müsste denn zufällig oder vorsätzlich auch auf ihr Hell und Dunkel abwechseln. Es sind also auch nur Beobachtungen durchs Prisma an farbigen Flächen anzustellen, insofern sie durch einen Rand von einer andern verschieden tingierten Fläche abgesondert werden.

102.
Es kommen alle Farben, welcher Art sie auch sein mögen, darin Überein, dass sie dunkler als Weiß und heller als Schwarz erscheinen. Wenn wir also vorerst kleine farbige Flächen gegen schwarze und weiße Flächen halten und betrachten, so werden wir alles, was wir bei grauen Flächen bemerkt haben, hier abermals bemerken können; allein wir werden zugleich durch neue und sonderbare Phänomene in Verwunderung gesetzt und angereizt, folgende genaue Beobachtungen anzustellen.

103.
Da die Ränder und Strahlungen, welche uns das Prisma zeigt, farbig sind, so kann der Fall kommen, dass die Farbe des Randes und der Strahlung mit der Farbe einer farbigen Fläche homogen ist; es kann aber auch im entgegengesetzten Falle die Fläche mit dem Rande und der Strahlung heterogen sein. In dem ersten identifiziert sich der Rand mit der Fläche und scheint dieselbe zu vergrößern, in dem andern verunreiniget er sie, macht sie undeutlich und scheint sie zu verkleinern. Wir wollen die Fälle durchgehen, wo dieser Effekt am sonderbarsten auffällt.

104.
Man nehme die beiliegende Tafel horizontal vor sich und betrachte das rote und blaue Viereck auf schwarzem Grunde nebeneinander auf die gewöhnliche Weise durchs Prisma, so werden, da beide Farben heller sind als der Grund, an beiden sowohl oben als unten gleiche farbige Ränder und Strahlungen entstehen, nur werden sie dem Auge des Beobachters nicht gleich deutlich erscheinen.

105.
Das Rote ist verhältnismäßig gegen das Schwarze viel heller als das Blaue, die Farben der Ränder werden also an dem Roten stärker als an dem Blauen erscheinen, welches wenig von dem Schwarzen unterschieden ist.

106.
Der obere rote Rand wird sich mit der Farbe des Vierecks identifizieren, und so wird das rote Viereck ein wenig hinaufwärts vergrößert scheinen; die gelbe, herabwärts wirkende Strahlung aber wird von der roten Fläche beinahe verschlungen und nur bei der genauesten Aufmerksamkeit sichtbar. Dagegen ist der rote Rand und die gelbe Strahlung mit dem blauen Viereck heterogen. Es wird also an dem Rande eine schmutzig rote und hereinwärts in das Viereck eine schmutzig grüne Farbe entstehen, und so wird beim ersten Anblicke das blaue Viereck von dieser Seite zu verlieren scheinen.

107.
An dem untern Rande der beiden Vierecke wird ein blauer Rand und eine violette Strahlung entstehen und die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen; denn der blaue Rand, der mit der roten Fläche heterogen ist, wird das Gelbrote – denn ein solches muss zu diesem Versuche gewählt werden – beschmutzen und eine Art von Grün hervorbringen, so dass das Rote von dieser Seite verkürzter scheint, und die violette Strahlung des Randes nach dem Schwarzen zu wird kaum bemerkt werden.

108.
Dagegen wird der blaue Rand sich mit der blauen Fläche identifizieren, ihr nicht allein nichts nehmen, sondern vielmehr noch geben und solche durch die violette Strahlung dem Anscheine nach noch mehr verlängern.

109.
Die Wirkung der homogenen und heterogenen Ränder, wie ich sie gegenwärtig genau beschrieben habe, ist so mächtig und so sonderbar, dass einem jeden Beobachter beim ersten Anblicke die beiden Vierecke aus der horizontalen Linie heraus und im entgegengesetzten Sinne auseinandergerückt scheinen, das rote hinaufwärts, das blaue herabwärts. Doch wird bei näherer Betrachtung diese Täuschung sich bald verlieren, und man wird die Wirkung der Ränder, wie ich sie angezeigt, bald genau bemerken lernen.

110.
Es sind überhaupt nur wenige Fälle, wo diese Täuschung statthaben kann; sie ist sehr natürlich, wenn man zu dem roten Viereck ein mit Zinnober, zu dem blauen ein mit Indigo gefärbtes Papier anwendet. Dieses ist der Fall, wo der blaue und rote Rand da, wo er homogen ist, sich unmerklich mit der Fläche verbindet, da, wo er heterogen ist, die Farbe des Vierecks nur beschmutzt, ohne eine sehr deutliche Mittelfarbe hervorzubringen. Das rote Viereck muss nicht so sehr ins Gelbe fallen, sonst wird oben der dunkelrote Rand sichtbar; es muss aber von der andern Seite genug vorn Gelben haben, sonst wird die gelbe Strahlung zu sichtbar. Das Blaue darf nicht um das mindeste heller sein, sonst wird der rote und gelbe Rand sichtbar, und man kann die untere violette Strahlung nicht mehr als die verrückte Gestalt des hellblauen Vierecks ansehen. Und so mit den übrigen Umständen, die dabei vorkommen.

110.
Ich habe gesucht, auf der beiliegenden Tafel die Töne der Farben dergestalt zu wählen, dass die Täuschung in einem hohen Grade hervorgebracht werde; weil es aber schwer ist, ein Papier so dunkelblau, als die Farbe hier erforderlich ist, egal anzustreichen, so werden einzelne Liebhaber entweder durch sorgfältige Färbung des Papiers oder auch durch Muster von Scharlach und blauem Tuche diesen Versuch noch reiner anstellen können

111.
Ich wünsche, dass alle diejenigen, denen es um diese Sache ernst wird, sich die hierbei anzuwendende geringe Mühe nicht möchten reuen lassen, um sich fest zu überzeugen, dass die farbigen Ränder selbst in diesem Falle einer geschärften Aufmerksamkeit nie entgehen können. Auch findet man schon auf unserer Tafel Gelegenheit, sich alle Zweifel zu benehmen.

112.
Man betrachte das weiße, neben dem blauen stehende Viereck auf schwarzem Grunde, so werden an dem weißen, welches hier an der Stelle des roten steht, die entgegengesetzten Ränder in ihrer höchsten Energie in die Augen fallen. Es erstreckt sich an demselben der rote Rand fast noch mehr als am roten selbst über das Blaue hinauf; der untere blaue Rand aber ist in seiner ganzen Schöne sichtbar, dagegen verliert es sich in dem blauen Viereck durch Identifikation. Die violette Strahlung hinabwärts ist viel deutlicher an dem weißen als an dem blauen.

113.
Man sehe nun herauf und herab, vergleiche das rote mit dem weißen, die beiden blauen Vierecke miteinander, das blaue mit dem roten, das blaue mit dem weißen, und man wird die Verhältnisse dieser Flächen zu ihren Rändern deutlich einsehen.

114.
Noch auffallender erscheinen die Ränder und ihre Verhältnisse zu den farbigen Flächen, wenn man die farbigen Vierecke und das schwarze auf weißem Grunde betrachtet- denn hier fällt jene Täuschung völlig weg, und die Wirkungen der Ränder sind so sichtbar, als wir sie nur in irgendeinem andern Falle gesehen haben. Man sehe zuerst das blaue und rote Viereck durchs Prisma an. An beiden entsteht der blaue Rand nunmehr oben; dieser, homogen mit dem Blauen, verbindet sich mit demselben und scheint es in die Höhe zu heben, nur dass der hellblaue Rand oberwärts schon zu sichtbar ist. Das Violette ist auch herabwärts ins Blaue deutlich genug. Eben dieser obere blaue Rand ist nun mit dem roten Viereck heterogen, er ist kaum sichtbar, und die violette Strahlung bringt, verbunden mit dem Gelbrot, eine Pfirsichblütfarbe zuwege.

115.
Wenn nun auch gleich in diesem Falle die obern Ränder dieser Vierecke nicht horizontal erscheinen, so erscheinen es die untern desto mehr; denn indem beide Farben gegen das Weiße gerechnet dunkler sind, als sie gegen das Schwarze hell waren, so entsteht unter beiden der rote Rand mit seiner gelben Strahlung, er erscheint unter dem gelbroten Viereck in seiner ganzen Schönheit und unter dem blauen beinahe, wie er unter dem schwarzen erscheint, wie man bemerken kann, wenn man die darunter gesetzten Vierecke und ihre Ränder mit den obern vergleicht.

116.
Um nun diesen Versuchen die größte Mannigfaltigkeit und Deutlichkeit zu geben, sind Vierecke von verschiedenen Farben in der Mitte der Tafel, halb auf die schwarze, halb auf die weiße Seite geklebt. Man wird sie, nach jenen uns nun bei farbigen Flächen genugsam bekannt gewordenen Gesetzen, an ihren Rändern verschiedentlich gefärbt finden, und die Vierecke werden in sich selbstentzwei gerissen und hinauf- oder hinunterwärts gerückt scheinen. Da nun das Phänomen, das wir vorhin an einem roten und blauen Viereck auf schwarzem Grunde bis zur Täuschung gesehen haben, uns an zwei Hälften eines Vierecks von gleicher Farbe sichtbar wird, wie es denn an dem mennigroten kleinen Vierecke am allerauffallendsten ist, so werden wir dadurch abermals auf die farbigen Ränder, ihre Strahlungen und auf die Wirkungen ihrer homogenen oder heterogenen Natur zu den Flächen, an denen sie erscheinen, aufmerksam gemacht.

117.
Ich überlasse den Beobachtern, die mannigfaltigen Schattierungen der halb auf Schwarz, halb auf Weiß befestigten Vierecke selbst zu vergleichen, und bemerke nur noch die scheinbare konträre Verzerrung, da Rot und Gelb auf Schwarz hinaufwärts, auf Weiß herunterwärts, Blau auf Schwarz herunterwärts und auf Weiß hinaufwärts gezogen scheinen.

118.
Es bleibt mir, ehe ich schließe, noch übrig, die schon bekannten Versuche noch auf eine Art zu vermannigfaltigen. Es stelle der Beobachter die Tafel dergestalt vor sich, dass sich der schwarze Teil oben und der weiße unten befindet; er betrachte durchs Prisma eben jene Vierecke, welche halb auf schwarzem, halb auf weißem Grunde stehen, nun horizontal nebeneinander; er wird bemerken, dass das rote Viereck durch einen Ansatz zweier roten Ränder gewinnt, er wird bei genauer Aufmerksamkeit die gelbe Strahlung von oben herein auf der roten Fläche bemerken, die untere gelbe Strahlung nach dem Weißen zu wird aber viel deutlicher sein.

119.
Oben an dem gelben Viereck ist der rote Rand sehr merklich, die gelbe Strahlung identifiziert sich mit der gelben Fläche, nur wird solche etwas schöner dadurch. Der untere Rand hat nur wenig Rot, und die gelbe Strahlung ist sehr deutlich. Das hellblaue Viereck zeigt oben den dunkelroten Rand sehr deutlich, die gelbe Strahlung vermischt sich mit der blauen Farbe der Fläche und bringt ein Grün hervor; der untere Rand geht in eine Art von Violett über, die gelbe Strahlung ist blass. An dem blauen Viereck ist der obere rote Rand kaum sichtbar, die gelbe Strahlung bringt herunterwärts ein schmutziges Grün hervor; der untere rote Rand und die gelbe Strahlung zeigen sehr lebhafte Farben.

120.
Wenn man nun in diesen Fällen bemerkt, dass die rote Fläche durch einen Ansatz auf beiden Seiten zu gewinnen, die dunkelblaue wenigstens von einer Seite zu verlieren scheint, so wird man, wenn man die Pappe umkehrt, dass der weiße Teil oben und der schwarze unten sich befindet, das umgekehrte Phänomen erblicken.

121.
Denn da nunmehr die homogenen Ränder und Strahlungen an den blauen Vierecken entstehen und sich mit ihnen verbinden, so scheinen sie beide vergrößert, ja ein Teil der Flächen selbst schöner gefärbt, und nur eine genaue Beobachtung wird die Ränder und Strahlungen von der Farbe der Fläche selbst unterscheiden lehren. Das Gelbe und Rote dagegen werden nunmehr von den heterogenen Rändern eingeschränkt. Der obere blaue Rand ist an beiden fast gar nicht sichtbar, die violette Strahlung zeigt sich als ein schönes Pfirsichblüt auf dem Roten, als ein sehr blasses auf dem Gelben, die beiden untern Ränder sind grün, an dem Roten schmutzig, lebhaft an dem Gelben; die violette Strahlung bemerkt man unter dem Roten sehr wenig, mehr unter dem Gelben.

122.
Es lassen sich diese Versuche noch sehr vervielfältigen, wie ich denn hier die farbigen Ränder der dunkelroten, hochgelben, grünen und hellblauen Vierecke, die sich auf der einen Seite der Tafel gleichfalls zwischen dem Schwarzen und Weißen befinden, nicht umständlich beschreibe und hererzähle, da sie sich jeder Beobachter leicht selbst deutlich machen und sich aufs neue überzeugen kann, dass die farbigen Vierecke nebeneinander deswegen durchs Prisma verschoben erscheinen, weil der Ansatz der homogenen und heterogenen Ränder eine Täuschung hervorbringt, die wir nur durch eine sorgfältige Reihe von Erfahrungen rektifizieren können.