Autorität

Indem wir nun von Überlieferung sprechen, sind wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autorität zu reden. Denn genau betrachtet, so ist jede Autorität eine Art Überlieferung. Wir lassen die Existenz, die Würde, die Gewalt von irgendeinem Dinge gelten, ohne daß wir seinen Ursprung, sein Herkommen, seinen Wert deutlich einsehen und erkennen. So schätzen und ehren wir zum Beispiel die edlen Metalle beim Gebrauch des gemeinen Lebens; doch ihre großen physischen und chemischen Verdienste sind uns dabei selten gegenwärtig. So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewissen eine ungeheure Autorität, weil sie unergründlich sind; ingleichen das, was wir mit dem Namen Genie bezeichnen. Dagegen kann man dem Verstand gar keine Autorität zuschreiben: denn er bringt nur immer seinesgleichen hervor, so wie denn offenbar aller Verstandesunterricht zur Anarchie führt.
Gegen die Autorität verhält sich der Mensch, so wie gegen vieles andere, beständig schwankend. Er fühlt in seiner Dürftigkeit, daß er, ohne sich auf etwas Drittes zu stützen, mit seinen Kräften nicht auslangt. Dann aber, wenn das Gefühl seiner Macht und Herrlichkeit in ihm aufgeht, stößt er das Hülfreiche von sich und glaubt, für sich selbst und andre hinzureichen.
Das Kind bequemt sich meist mit Ergebung unter die Autorität der Eltern; der Knabe sträubt sich dagegen; der Jüngling entflieht ihr, und der Mann läßt sie wieder gelten, weil er sich deren mehr oder weniger selbst verschafft, weil die Erfahrung ihn gelehrt hat, daß er ohne Mitwirkung anderer doch nur wenig ausrichte.
Ebenso schwankt die Menschheit im ganzen. Bald sehen wir um einen vorzüglichen Mann sich Freunde, Schüler, Anhänger, Begleiter, Mitlebende, Mitwohnende, Mitstreitende versammeln. Bald fällt eine solche Gesellschaft, ein solches Reich wieder in vielerlei Einzelnheiten auseinander. Bald werden Monumente älterer Zeiten, Dokumente früherer Gesinnungen, göttlich verehrt, buchstäblich aufgenommen; jedermann gibt seine Sinne, seinen Verstand darunter gefangen; alle Kräfte werden aufgewendet, das Schätzbare solcher Überreste darzutun, sie bekannt zu machen, zu kommentieren, zu erläutern, zu erklären, zu verbreiten und fortzupflanzen. Bald tritt dagegen, wie jene bilderstürmende, so hier eine schriftstürmende Wut ein; es täte not, man vertilgte bis auf die letzte Spur das, was bisher so großen Wertes geachtet wurde. Kein ehemals ausgesprochenes Wort soll gelten, alles, was weise war, soll als närrisch erkannt werden, was heilsam war, als schädlich, was sich lange Zeit als förderlich zeigte, nunmehr als eigentliches Hindernis.
Die Epochen der Naturwissenschaften im allgemeinen und der Farbenlehre insbesondre, werden uns ein solches Schwanken auf mehr als eine Weise bemerklich machen. Wir werden sehen, wie dem menschlichen Geist das aufgehäufte Vergangene höchst lästig wird zu einer Zeit, wo das Neue, das Gegenwärtige gleichfalls gewaltsam einzudringen anfängt, wie er die alten Reichtümer aus Verlegenheit, Instinkt, ja aus Maxime wegwirft, wie er wähnt, man könne das Neu zuerfahrende durch bloße Erfahrung in seine Gewalt bekommen: wie man aber bald wieder genötigt wird, Räsonnement und Methode, Hypothese und Theorie zu Hülfe zu rufen, wie man dadurch abermals in Verwirrung, Kontrovers, Meinungenwechsel, und früher oder später aus der eingebildeten Freiheit wieder unter den ehernen Zepter einer aufgedrungenen Autorität fällt.
Alles, was wir an Materialien zur Geschichte, was wir Geschichtliches einzeln ausgearbeitet zugleich überliefern, wird nur der Kommentar zu dem Vorgesagten sein. Die Naturwissenschaften haben sich bewundernswürdig erweitert, aber keinesweges in einem stetigen Gange, auch nicht einmal stufenweise, sondern durch Auf- und Absteigen, durch Vor- und Rückwärtswandeln in grader Linie oder in der Spirale, wobei sich denn von selbst versteht, daß man in jeder Epoche über seine Vorgänger weit erhaben zu sein glaubte. Doch wir dürfen künftigen Betrachtungen nicht vorgreifen. Da wir die Teilnehmenden durch einen labyrinthischen Garten zu führen haben, so müssen wir ihnen und uns das Vergnügen mancher überraschenden Aussicht vorbehalten.
Wenn nun derjenige, wo nicht für den Vorzüglichsten, doch für den Begabtesten und Glücklichsten zu halten wäre, der Ausdauer, Lust, Selbstverleugnung genug hätte, sich mit dem Überlieferten völlig bekannt zu machen, und dabei noch Kraft und Mut genug behielte, sein originelles Wesen selbständig auszubilden und das vielfach Aufgenommene nach seiner Weise zu bearbeiten und zu beleben: wie erfreulich muß es nicht sein, wenn dergleichen Männer in der Geschichte der Wissenschaften uns, wiewohl selten genug, wirklich begegnen. Ein solcher ist derjenige, zu dem wir uns nun wenden, der uns vor vielen andern trefflichen Männern aus einer zwar regsamen, aber doch immer noch trüben Zeit, lebhaft und freudig entgegen tritt.