Nachtrag

Ehe wir uns von diesen gutmütigen Hoffnungen zu jener traurigen Lücke wenden, die zwischen der Ge schichte alter und neuer Zeit sich nun bald vor uns auftut, so haben wir noch einiges nachzubringen, das uns den Überblick des bisherigen erleichtert und uns zu weiterem Fortschreiten anregt.
Wir gedenken hier des Lucius Annäus Seneca nicht sowohl insofern er von Farben etwas erwähnt, da es nur sehr wenig ist und bloß beiläufig geschieht, als vielmehr wegen seines allgemeinen Verhältnisses zur Naturforschung.
Ungeachtet der ausgebreiteten Herrschaft der Römer über die Welt stockten doch die Naturkennt nisse eher bei ihnen, als daß sie sich verhältnismäßig erweitert hätten. Denn eigentlich interessierte sie nur der Mensch, insofern man ihm mit Gewalt oder durch Überredung etwas abgewinnen kann. Wegen des letz tern waren alle ihre Studien auf rednerische Zwecke berechnet. Übrigens benutzten sie die Naturgegen stände zu notwendigem und willkürlichem Gebrauch so gut und so wunderlich, als es gehn wollte.
Seneca war, wie er selbst bedauert, spät zur Natur betrachtung gelangt. Was die Früheren in diesem Fache gewußt, was sie darüber gedacht hatten, war ihm nicht unbekannt geblieben. Seine eigenen Mei nungen und Überzeugungen haben etwas Tüchtiges. Eigentlich aber steht er gegen die Natur doch nur als ein ungebildeter Mensch: denn nicht sie interessiert ihn, sondern ihre Begebenheiten. Wir nennen aber Begebenheiten diejenigen zusammengesetzten auffal lenden Ereignisse, die auch den rohesten Menschen erschüttern, seine Aufmerksamkeit erregen, und wenn sie vornüber sind, den Wunsch in ihm beleben, zu er fahren, woher so etwas denn doch wohl kommen möchte.
Im ganzen führt Seneca dergleichen Phänomene, auf die er in seinem Lebensgange aufmerksam gewor den, nach der Ordnung der vier Elemente auf, läßt sich aber doch, nach vorkommenden Umständen, bald da bald dorthin ableiten.
Die meteorischen Feuerkugeln, Höfe um Sonn› und Mond, Regenbogen, Wettergallen, Nebensonnen, Wetterleuchten, Sternschnuppen, Kometen beschäfti gen ihn unter der Rubrik des Feuers. In der Luft sind Blitz und Donner die Hauptveranlassungen seiner Betrachtungen. Später wendet er sich zu den Winden, und da er das Erdbeben auch einem unterirdischen Geiste zuschreibt, findet er zu diesem den Übergang. Bei dem Wasser sind ihm, außer dem süßen, die Gesundbrunnen merkwürdig, nicht weniger die peri odischen Quellen. Von den Heilkräften der Wasser geht er zu ihrem Schaden über, besonders zu dem, den sie durch Überschwemmung anrichten. Nach den Quellen des Nils und der weisen Benutzung dieses Flusses beschäftigen ihn Hagel, Schnee, Eis und Regen.
Er läßt keine Gelegenheit vorbeigehen, prächtige und, wenn man den rhetorischen Stil einmal zugeben will, wirklich köstliche Beschreibungen zu machen, wovon die Art wie er den Nil und was diesen Fluß be trifft, behandelt, nicht weniger seine Beschreibung der Überschwemmungen und Erdbeben, ein Zeugnis able gen mag. Seine Gesinnungen und Meinungen sind tüchtig. So streitet er zum Beispiel lebhaft gegen diejenigen, welche das Quellwasser vom Regen ableiten, welche behaupten, daß die Kometen eine vorüberge hende Erscheinung seien.
Worin er sich aber vom wahren Physiker am mei sten unterscheidet, sind seine beständigen, oft sehr ge zwungen herbeigeführten Nutzanwendungen und die Verknüpfung der höchsten Naturphänomene mit dem Bedürfnis, dem Genuß, dem Wahn und dem Übermut der Menschen.
Zwar sieht man wohl, daß er gegen Leichtgläubig keit und Aberglauben im Kampfe steht, daß er den humanen Wunsch nicht unterdrücken kann, alles, was die Natur uns reicht, möge dem Menschen zum Be sten gedeihen; er will, man solle so viel als möglich in Mäßigkeit genießen und zugleich den verderblichen und zerstörenden Naturwirkungen mit Ruhe und Er gebung entgegensehen; insofern erscheint er höchst ehrwürdig, und da er einmal von der Redekunst her kommt, auch nicht außer seinem Kreise.
Unleidlich wird er aber, ja lächerlich, wenn er oft, und gewöhnlich zur Unzeit, gegen den Luxus und die verderbten Sitten der Römer loszieht. Man sieht die sen Stellen ganz deutlich an, daß die Redekunst aus dem Leben sich in die Schulen und Hörsäle zurückge zogen hat: denn in solchen Fällen finden wir meist bei ihm wo nicht leere, doch unnütze Deklamationen, die, wie man deutlich sieht, bloß daher kommen, daß der Philosoph sich über sein Zeitalter nicht erheben kann. Doch ist dieses das Schicksal fast seiner ganzen Nation.
Die Römer waren aus einem engen, sittlichen, bequemen, behaglichen, bürgerlichen Zustand zur gro ßen Breite der Weltherrschaft gelangt, ohne ihre Be schränktheit abzulegen; selbst das, was man an ihnen als Freiheitssinn schätzt, ist nur ein borniertes Wesen. Sie waren Könige geworden und wollten nach wie vor Hausväter, Gatten, Freunde bleiben; und wie wenig selbst die Besseren begriffen, was Regieren heißt, sieht man an der abgeschmacktesten Tat, die jemals begangen worden, an der Ermordung Cäsars.
Aus eben dieser Quelle läßt sich ihr Luxus herleiten. Ungebildete Menschen, die zu großem Ver mögen gelangen, werden sich dessen auf eine lächerli che Weise bedienen; ihre Wollüste, ihre Pracht, ihre Verschwendung werden ungereimt und übertrieben sein. Daher denn auch jene Lust zum Seltsamen, Un zähligen und Ungeheuern. Ihre Theater, die sich mit den Zuschauern drehen, das zweite Volk von Statuen, womit die Stadt überladen war, sind wie der spätere kolossale Napf, in welchem der große Fisch ganz ge sotten werden sollte, alle eines Ursprungs; sogar der Übermut und die Grausamkeit ihrer Tyrannen läuft meistens aufs Alberne hinaus.
Bloß indem man diese Betrachtungen anstellt, be greift man, wie Seneca, der ein so bedeutendes Leben geführt, dagegen zürnen kann, daß man gute Mahlzei ten liebt, sein Getränk dabei mit Schnee abkühlt, daß man sich des günstigen Windes bei Seeschlachten be dient, und was dergleichen Dinge mehr sein mögen. Solche Kapuzinerpredigten tun keine Wirkung, hin dern nicht die Auflösung des Staates und können sich einer eindringenden Barbarei keinesweges entgegen setzen.
Schließlich dürfen wir jedoch nicht verschweigen, wie er höchst liebenswürdig in seinem Vertrauen auf die Nachwelt erscheint. Alle jene verflochtenen Naturbegebenheiten, auf die er vorzüglich seine Aufmerk samkeit wendet, ängstigen ihn als ebenso viele unergründliche Rätsel. Aufs Einfachere zu dringen, das Einfachste durch eine Erfahrung, in einem Ver such vor die Sinne zu stellen, die Natur durch Entwicklung zu enträtseln, war noch nicht Sitte geworden. Nun bleibt ihm, bei dem großen Drange, den er in sich fühlt, nichts übrig, als auf die Nachkommen zu hoffen, mit Vorfreude überzeugt zu sein, daß sie mehr wissen, mehr einsehen werden als er, ja ihnen sogar die Selbstgefälligkeit zu gönnen, mit der sie wahr scheinlich auf ihre unwissenden Vorfahren herabsehen würden.
Das haben sie denn auch redlich getan und tun es noch. Freilich sind sie viel später dazu gelangt, als unser Philosoph sich vorstellen mochte. Das Verderbnis der Römer schwebt ihm fürchterlich vor; daß aber daraus nur allzubald das Verderben sich entwickeln, daß die vorhandene Welt völlig untergehen, die Menschheit über ein Jahrtausend verworren und hülf los irren und schwanken würde, ohne auf irgend einen Ausweg zu geraten, das war ihm wohl unmöglich zu denken, ihm, der das Reich, dessen Kaiser von ihm erzogen ward, in übermäßiger Herrlichkeit vor sich blühen sah.